Die Weiße Rose

 

(Referat von Jörg Hartnagel, gehalten am 16.03.2005 im Lise-Meitner-Gymnasium Crailsheim vor Schülern des „Lycée Notre Dame“ aus Pamiers)

 

Ich wurde gebeten, etwas zur Münchener „Weißen Rose“ zu sagen. Tatsächlich ist die Weiße Rose heute neben den Offizieren des 20. Juli 1944 die bekannteste deutsche Widerstandsgruppe. Darüber darf man aber nicht vergessen, dass Gruppen und Einzelpersonen aus fast allen gesellschaftlichen Bereichen und Schichten Widerstand geleistet haben – freilich immer als kleine Minderheiten.

 

Andererseits liegt es natürlich nahe, wenn man in Crailsheim und der Region Hohenlohe über den Widerstand im „Dritten Reich“ spricht, das Beispiel der „Weißen Rose“ zu wählen. Hans Scholl, neben Alexander Schmorell der „Motor“ der „Weißen Rose“, wurde am 22. September 1918 in Ingersheim geboren. Sein Vater Robert Scholl war damals Bürgermeister der Doppelgemeinde Ingersheim und Altenmünster. Beides sind heute Stadtteile von Crailsheim.

 

Darüber hinaus ist Crailsheim der Geburtsort von Eugen Grimminger.

Eugen Grimminger wurde 1892 geboren, besuchte hier die Grund- und Realschule und machte auf dem Crailsheimer Rathaus eine Verwaltungslehre. Von 1918 bis 1922 arbeitete er als Beamter beim Kommunalverband Crailsheim.

Über seine Bedeutung für die „Weiße Rose“ nachher mehr.

 

Am 9. Mai 1921 wurde Hans Scholls Schwester Sophie in dem hohenloheschen Städtchen Forchtenberg am Kocher geboren. Der Vater war mittlerweile dort Bürgermeister geworden.

 

Und schließlich wurde schon am 4. Juni 1879 in Eberbach an der Jagst, wenige Kilometer die Jagst abwärts von Langenburg, das einige von Euch vielleicht kennen, Theodor Haecker geboren, einer der bedeutendsten katholischen Publizisten deutscher Sprache  zwischen dem 1. und dem 2. Weltkrieg. Er wurde ein wichtiger geistiger Ratgeber der „Weißen Rose“, auch wenn er an ihren Aktionen nicht beteiligt war.

 

Die Mitglieder des „Weißen Rose“-Kreises stammten aus bürgerlich-liberalen Elternhäusern.

 

Man muss sich vor Augen führen, dass diese jungen Frauen und Männer 1933, als die Nazis an die Macht kamen, zwischen elf und fünfzehn Jahre alt waren, also gerade in dem Alter, in dem man beginnt, sich für die Welt der Erwachsenen und auch für Politik zu interessieren. Seither waren sie permanent im Geiste des Nationalsozialismus indoktriniert worden.

 

Sie sind ein Beispiel dafür, dass man auch als junger Mensch gegen den Einfluss einer menschenverachtende Umgebung immun sein oder sich ihm entziehen kann.

 

Versuchen wir uns jetzt ein genaueres Bild davon zu machen, was die „Weiße Rose“ eigentlich war:

 

Stellen wir uns einen nicht allzu großen Kreis von Studentinnen und Studenten vor, die sich untereinander zunächst gar nicht alle kannten. Der eine kannte diesen, der andere jenen. Alle aber verband sie die Gegnerschaft zum Nationalsozialismus, der ihre Jugend und Studentenzeit durch einen Zwangsdienst nach dem anderen reglementierte: Dienst in der Hitlerjugend, Arbeitsdienst, Militärdienst, Appelle in der Kaserne, Kriegshilfsdienst,  Ernteeinsätze in den Semesterferien, ohne die sie sich nicht für das  nächste Semester einschreiben konnten, usw.

Sie litten unter der persönlichen Unfreiheit, die die Nazi-Diktatur bedeutete und unter der Unmöglichkeit eines freien Gedankenaustausches, gerade in einem Alter, in dem man seinen eigenen Standpunkt sucht. Sie hassten die Atmosphäre des Misstrauens, von der sie umgeben waren. Ständig mussten sie in der Angst leben, wegen einer unvorsichtigen Äußerung bei der Gestapo denunziert zu werden oder durch die Briefzensur in die Mühlen der Nazi-Justiz zu geraten.

 

Sie sahen den Krieg als das an, was er war – ein Verbrechen, und nach und nach hörten sie auch von den Gräueltaten an den Juden, insbesondere in Osteuropa, wenn auch das ganze schreckliche Ausmaß den meisten Deutschen erst nach dem Krieg bekannt wurde. Sie mussten mit ansehen, wie der deutsche Name von den Nazis vor der ganzen Welt in den Schmutz getreten  wurde.

 

Diese grundsätzliche und völlige Ablehnung des Nationalsozialismus war das, was sie bei aller Verschiedenheit verband und sie war gleichzeitig die Voraussetzung dafür, zu diesem Kreis, der sich jetzt zu bilden begann, dazu gehören zu können.

 

So nach und nach wuchs dieser Kreis, der später die „Weiße Rose“ genannt wurde, zusammen. Da waren zunächst die Medizinstudenten, die gleichzeitig Wehrmachtsangehörige sein mussten, in Studentenkompanien zusammengefasst waren, und die anfangs sogar in der Kaserne wohnen mussten. Später begnügte man sich mit dem täglichen Appell in der Kaserne und sie durften sich private Unterkünfte suchen, da man im Lärm der Kaserne nicht richtig studieren konnte.

 

Ironie der Geschichte: Der Beschluss der Regierung, die Medizinstudenten zu Studentenkompanien zusammenzufassen, war letztlich eine wichtige Voraussetzung für das Entstehen der „Weißen Rose“.

 

Jürgen Wittenstein hatte Alexander Schmorell in der Kaserne als Stubengenossen und wusste, dass dieser wie er selbst Nazi-Gegner war. Er kannte auch Hans Scholl aus der selben Studentenkompanie, der die Nazis ebenso radikal ablehnte. Also machte er die beiden miteinander bekannt. Schmorell kannte Christoph Probst - auch ein Mitglied der Studentenkompanie -  aus seiner Schulzeit. Dieser hatte eine jüdische Stiefmutter, was schon allein ein hinreichender Grund gewesen wäre, die Nazis zu hassen, wenn es nicht noch hunderte andere gegeben hätte.

 

Willi Graf - auch er Mitglied der Studentenkompanie -  suchte Gleichgesinnte, denen er vertrauen und mit denen er sich Aussprechen konnte.

 

Im Mai 1942 begann Sophie Scholl ihr Biologie- und Philosophiestudium in München. Und der Philosoph und Musikwissenschaftler Prof. Kurt Huber sagte in seinen philosophischen Vorlesungen zwischen den Zeilen Dinge, die ihn ins KZ hätten bringen können, wenn die Nazi-Spitzel sie verstanden hätten. So wurde auch er zu den Gesprächsabenden des Kreises eingeladen.

 

Das ist aber nur der aller engste Kreis derer, die schließlich versuchten, mit Flugblättern und Maueranschriften der nationalsozialistischen Propaganda etwas entgegenzusetzen und ihre Mitmenschen wachzurütteln. Um diesen scharten sich weitere, die an den illegalen Aktionen mehr oder weniger beteiligt waren, die etwas wussten oder ahnten oder auch gar nichts davon wussten und es würde jetzt zu weit führen, sie alle, soweit sie bekannt sind, beim Namen zu nennen, auch wenn sie es verdient hätten.

 

Ein Name sei dennoch genannt: Carl Muth. Carl Muth, ein über 70jähriger Gelehrter, war Publizist und Herausgeber der fortschrittlichen katholischen Monatszeitschrift „Hochland“, die von den Nazis eingestellt worden war. Hans Scholl hatte es übernommen, ihm seine umfangreiche Bibliothek zu ordnen und es kam dabei zu äußerst fruchtbaren Gesprächen über religiöse Fragen. Sophie Scholl wohnte zu Beginn ihres Studiums bei ihm, bis sie ein eigenes Zimmer gefunden hatte, und war tief von ihm beeindruckt. Carl Muth vermittelte auch den Kontakt zu dem mit ihm befreundeten Theodor Haecker, von dem vorhin schon die Rede war.

Vor allem auf Carl Muth und Theodor Haecker ist der zeitweise starke katholische Einfluss insbesondere bei Hans und Sophie Scholl und ihre Beschäftigung mit dem Renouveau Catholique zurückzuführen.

 

Ich muss an dieser Stelle allerdings darauf hinweisen, dass diese Beschäftigung mit religiösen Fragen vor dem Hintergrund der Gegnerschaft zum Nationalsozialismus stattfand und nicht umgekehrt, wie es manche heute gerne darstellen.

 

Zunächst bot dieser studentische Kreis von zirka einem Duzend Gleichgesinnter die Möglichkeit, in größerer oder kleinerer Runde gemeinsam die Freizeit zu verbringen und dabei die Nischen zu nutzen, die die Nazidiktatur noch gelassen hatte. Die meisten verband eine große Liebe zur Natur, und so machten sie Ausflüge in die Umgebung von München oder gingen im Winter zum Skifahren in die nahen Alpen.

 

Eine wichtige Rolle spielten gemeinsame Theater- und Konzertbesuche - die großen Dichter und  Komponisten der Vergangenheit konnten die Nazis schließlich nicht verbieten – und besonders in der Musik fanden sie eine Freiheit, die es im täglichen Leben nicht mehr gab. Einige, die gute Sänger waren, sangen im Münchener Bachchor mit. Andere, künstlerisch begabte, besuchten Zeichenkurse oder gingen zusammen in den Zoo um Tiere zu zeichnen.

 

Eine besonders große Bedeutung aber hatte das Gespräch über Literatur und besonders über Bücher, die in Deutschland verboten waren, die aber in bestimmten, den Eingeweihten bekannten Buchhandlungen „unter der Ladentheke“ verkauft wurden.

Diskutiert wurden auch französische Autoren wie Bernanos, Claudel oder Maritain.

 

Über Josef Furtmeier, einen Justizbeamten, der sich hatte pensionieren lassen, um nicht für die Nazis arbeiten zu müssen, lernte Hans Scholl den Münchener Architekten Manfred Eickemeyer kennen. Nachdem dieser nach Polen dienstverpflichtet worden war, überließ er Hans Anfang 1942 sein Atelier in einem Hinterhaus.

 

Von Eickemeier erhielten die Studenten übrigens auch erste Informationen von Massenmordaktionen der so genannten „Einsatzgruppen“ in Polen an Juden, polnischen Intellektuellen und Adeligen.

 

In diesem Hinterhaus-Atelier ließen sich nun für ein ausgewähltes Publikum Lesungen organisieren, ohne dass andere etwas davon mitkriegten, oft mit Autoren, die nicht mehr öffentlich auftreten durften. Im Anschluss an diese Lesungen fanden meist leidenschaftliche Diskussionen statt, in denen es nie um rein literarische sondern hauptsächlich um politische Themen ging:

 

Die „Weiße Rose“ war also zunächst ein Kreis von Gleichgesinnten, ein Gesprächszirkel, in dem man versuchte, das „Dritte Reich“ geistig zu überleben.

 

Aber immer mehr schob sich, wenn wohl auch zunächst unausgesprochen, die Frage in den Mittelpunkt: „Was können und müssen wir tun?“

 

Schließlich entschlossen sich im Frühjahr 1942 Alexander Schmorell und Hans Scholl Flugblätter zu verfassen und mit der Post zu verschicken – vielleicht dazu angeregt durch die Predigten des Münsteraner Bischofs Clemens August Graf von Galen in denen er die systematische Ermordung von Behinderten durch die Nazi-Behörden anprangerte und die in Abschriften kursierten.

 

Wie weit Sophie Scholl, die im Mai 1942 mit ihrem Biologie- und Philosophiestudium in München begonnen hatte, eingeweiht und beteiligt war, ist nicht ganz klar. Man kann aber heute davon ausgehen, dass sie nicht nur davon wusste, sondern mit einbezogen war, auch wenn ihre ältere Schwester Inge Scholl in ihrem 1953 erschienenen Buch „Die Weiße Rose“ eine andere Ansicht vertritt.

Das jetzt auszuführen, würde zu lange dauern.

 

In kurzen Abständen erschienen in den Monaten Juni und Juli vier Flugblätter unter dem Namen „Flugblätter der Weißen Rose“.

 

Hans Scholl äußerte sich nach seiner Verhaftung gegenüber der Gestapo folgendermaßen zu diesem Namen:

„Der Name „Die Weiße Rose“ ist willkürlich gewählt. Ich ging von der Voraussetzung aus, dass in einer schlagkräftigen Propaganda gewisse feste Begriffe da sein müssen, die an und für sich nichts besagen, einen guten Klang haben, hinter denen aber ein Programm steht.“

 

Es gibt viele Spekulationen, welche weiteren Assoziationen er darüber hinaus mit dem Namen „Weiße Rose“ verbunden haben mag, die aber insgesamt nicht sehr erhellend sind.

 

Diese vier Flugblätter sind in einer Sprache verfasst, die uns heute fremd geworden ist und die in ihrem Pathos nur vor dem Hintergrund zu verstehen ist, dass sie ein Volk aufrütteln sollen, das sich willenlos einem Regime von Mördern unterworfen hat. Ganz offensichtlich - und Hans Scholl hat das bei seiner Vernehmung auch bestätigt – richten sich die Flugblätter an gebildete Kreise, für die humanistische Bildung noch einen gewissen Wert darstellt. Zahlreiche und ausführliche Klassikerzitate sollen deutlich machen, dass der nationalsozialistische Staat sich auf keinen einzigen der deutschen Dichter und Denker berufen kann, der Widerstand dagegen  auf alle.

 

Im Kern geht es darum, die Intelligenz aufzurufen, aus ihrem Dämmerschlaf aufzuwachen, sich seiner Verantwortung als Mitglied der christlichen und abendländischen Kultur bewusst zu werden und sich zu wehren, bevor es zu spät ist.

 

In den Augen der Flugblattautoren waren es in erster Linie die Intellektuellen, die 1933 versagt haben.

 

Im zweiten Flugblatt wird darauf hingewiesen, „dass seit der Eroberung Polens dreihunderttausend Juden in diesem Land auf bestialischste Art ermordet worden sind“, was als das fürchterlichste Verbrechen der Menschengeschichte bezeichnet wird.

 

Im dritten Flugblatt heißt es, der Nationalsozialismus müsse an allen Stellen angegriffen werden, an denen er angreifbar ist.

 

Zitat: „Ein Ende muss diesem Unstaat möglichst bald bereitet werden – ein Sieg des faschistischen Deutschlands hätte unabsehbare, fürchterliche Folgen. Nicht der militärische Sieg über den Bolschewismus darf die erste Sorge für jeden Deutschen sein, sondern die Niederlage des Nationalsozialismus.“

 

Die Flugblätter rufen nicht zu heroischen Taten auf, sondern benennen als pragmatische Möglichkeit des Widerstands für jeden den passiven Widerstand. Passiver Widerstand meint, seine Arbeit, die ja in irgend einer Weise zum Fortbestands dieses Staates und der Verlängerung des Kriegs beiträgt, so schlecht zu machen, dass es gerade noch keine persönliche Gefährdung nach sich zieht, bis hin zur Sabotage.

 

Von den vier Flugblättern schlägt das vierte am stärksten metaphysische Töne an. Hitler wird als Bote des Antichrists, sein Mund als der stinkende Rachen der Hölle bezeichnet. Aber im selben Flugblatt greifen die Autoren auch immer wieder zu  einer sachlichen Sprache.

 

Zitat:

„Indessen ist der deutsche Vormarsch in Ägypten zum Stillstand gekommen [...] aber noch geht der Vormarsch im Osten weiter. Dieser scheinbare Erfolg ist unter den grauenhaftesten Opfern erkauft worden, so dass er schon nicht mehr als vorteilhaft bezeichnet werden kann. Wir warnen daher vor jedem Optimismus.“
Oder:

„Wir weisen ausdrücklich darauf hin, dass die Weiße Rose nicht im Solde einer ausländischen Macht steht“.

Oder :

„Zu Ihrer Beruhigung möchten wir noch hinzufügen, dass die Adressen der Leser der Weißen Rose nirgendwo schriftlich hinterlegt sind. Die Adressen sind willkürlich Adressbüchern entnommen“

 

Man spürt regelrecht, wie sie einerseits versuchen, das, was da als unaufhaltsame Todesmaschinerie erscheint, in allen seinen Dimensionen selbst zu begreifen und andererseits merken, dass sie sich auch in das Denken ihrer Leser hineinversetzen müssen.

 

Vom Inhalt ganz abgesehen, waren diese Flugblätter etwas Außergewöhnliches. Mit ihnen war es gelungen, wenn auch nur in ganz kleinem Maßstab, das Kommunikationsmonopol der Nationalsozialisten zu durchbrechen, die durch ihre Zensur den Inhalt aller deutschen Zeitungen und Rundfunksender kontrollierten. Das Hören von Auslandssendern oder das Lesen von ausländischen Zeitungen war mit drakonischen Strafen belegt.

 

Ende Juli 1942 wurde die Studentenkompanie zur Famulatur an die Ostfront abkommandiert.

Am 23. Juli verabschiedeten sie sich am Münchner Ostbahnhof von den zurückbleibenden.

 

Zurück in München blieben die Studentinnen, von denen als einzige Sophie Scholl in die illegale Arbeit eingeweiht war. Die Widerstandstätigkeit kam deshalb für das restliche Jahr zum Erliegen.

 

Von den Sanitätsfeldwebeln kannte bisher nur Willi Graf die Ostfront. Hans Scholl hatte zwar den Frankreichfeldzug mitgemacht. Aber die Franzosen wurden immerhin noch als Europäer respektiert, während die Russen als „Untermenschen“ galten und entsprechend behandelt wurden.

 

Hier konnten die Studenten die entfesselte Brutalität des Nationalsozialismus und seinen mörderischen Charakter mit eigenen Augen erleben. Was sie vorher theoretisch in ihren Flugblättern formuliert hatten, wurde jetzt plastisch greifbar: dass dieser Krieg und der Nazi-Staat zwei Seiten einer Medaille waren. Solange Deutschland in diesem Krieg siegreich war, würden die Nazis an der Macht bleiben und nur wenn Deutschland den Krieg verliert, würden auch die Nazis stürzen.

 

Ihre oppositionelle Haltung radikalisierte sich und sie waren entschlossen, nach ihrer Rückkehr die Widerstandstätigkeit in größerem Maßstab fortzuführen.

 

Als sie am Abend des 6. November 1942 dreckig, verlaust und verwanzt wieder in München eintrafen, brauchten sie erst einmal Erholung. Sie besuchten ihre Familien und Freunde. Die politische Arbeit lief erst allmählich wieder an.

 

Zunächst wurden Willi Graf und Hubert Furtwängler, die sich in Russland als zuverlässig erwiesen hatten, in die illegale Arbeit eingeweiht. Jürgen Wittenstein wusste schon seit dem 2. Flugblatt Bescheid. Neue Kontakte wurden geknüpft. Willi Graf suchte alte Bekannte in Bonn und im Saarland auf um an anderen Hochschulen Widerstandsgruppen zu initiieren. Jürgen Wittenstein besuchte Hellmut Hartert in Berlin, der schon in seiner Münchener Zeit Kontakt zu dem Kreis hatte, und dieser erklärte sich bereit zu versuchen, an der dortigen Universität eine Widerstandgruppe aufzubauen. In Ulm wollte eine Gruppe von Gymnasiasten den Versand der Flugblätter unterstützen.

Und nicht zuletzt wurde im Dezember 1942 oder Januar 1943 Prof. Kurt Huber, der schon vorher zu Lesungen und Diskussionsabenden eingeladen worden war, eingeweiht und aufgefordert, die Arbeit zu unterstützen, und er stimmte spontan zu.

 

Hans Scholl und Alexander Schmorell, die strategischen Köpfe, besuchten Anfang November Falk Harnack in Chemnitz. Vermittelt hatte diesen Kontakt Lilo Ramdohr, eine Malerin und Gymnastiklehrerin, die mit der Familie Harnack befreundet war und in engem Kontakt zu dem Freundeskreis und besonders zu Alexander Schmorell stand.

 

Dr. Falk Harnack, ein Theaterregisseur, war der jüngere Bruder Arvid Harnack, der einer von der Gestapo „Rote Kapelle“ genannten Widerstandsorganisation angehört hatte, die sowohl die mit Hamburger Kommunisten als auch dem bürgerlichen „Kreisauer Kreis“ zusammen gearbeitet hatte. Sie wurde aufgedeckt und Arvid Hanack am 22.12.1942 in Berlin-Plötzensee hingerichtet.

 

Falk Harnack hatte Kontakte sowohl zu der militärischen Widerstandsgruppe um Oberst Claus Schenk Graf von Stauffenberg, die heute „20.Juli“ heißt, als auch zur „Bekennenden Kirche“ – einer Gruppierung evangelischer Christen, die in ganz Deutschland vertreten war und die sich gegen die Vereinnahmung der Kirche durch die Nazis stemmte. Der Pfarrer Dietrich Bonhoeffer, einer ihrer führenden Köpfe, und sein Bruder, der Rechtsanwalt Klaus Bonhoeffer, waren seine Vettern.

 

Mit Falk Harnack diskutierten sie ihre bisherigen Flugblätter und möglicherweise auch schon neue Entwürfe. Falk Harnack bestärkte sie in ihrer Absicht, die folgenden Flugblätter in einer klareren, weniger schwärmerischen Sprache zu verfassen.

 

Am 8. und 9. Februar kam es zu einem Treffen in München – Falk Harnack spricht nach dem Krieg von einer „Münchener Konferenz“, bei der nach seinem Bericht neben ihm Prof. Huber, Alexander Schmorell, Hans Scholl, Willi Graf und Sophie Scholl zugegen waren.

 

Sie beschlossen, drei Thesen zu propagieren:

 

  1. Der Krieg ist für Deutschland verloren.
  2. Hitler und seine Clique setzen den Krieg nur für ihre persönliche Sicherheit fort und sind dafür bereit, das deutsche Volk zu opfern.
  3. Alle oppositionellen Kräfte sind zu mobilisieren, um den Krieg so schnell wie möglich zu beenden.

 

Falk Harnack vermittelte ein Treffen zwischen Hans Scholl und Dietrich Bonhoeffer für den 25. Februar 1943. An diesem Tag wartete er vergeblich auf ihn. Hans Scholl war bereits am 22. Februar zusammen mit seiner Schwester Sophie und Christoph Probst enthauptet worden.

 

Ich bin der Zeit etwas vorausgeeilt, aber es wird ganz deutlich, dass die Studenten sich jetzt nicht mehr als lokalen studentischen Widerstandszirkel in München sahen, sondern als Teil des deutschen Widerstands, mit dem sie kooperieren wollten.

 

Das wird auch am nächsten Flugblatt deutlich. Es firmiert nicht mehr unter der Überschrift „Flugblätter der Weißen Rose“, sondern als „Flugblätter der Widerstandsbewegung in Deutschland“

 

Bevor ich auf die letzten beiden Flugblätter und das Ende der „Weißen Rose“ eingehen, muss ich jetzt auf die Person Eugen Grimmingers zu sprechen kommen, den ich schon am Anfang erwähnt hatte.

 

Mit der Fortführung der Widerstandstätigkeit in größerem Maßstab erhielt der finanzielle Aspekt eine andere Bedeutung als bisher. Konnten sie Flugblätter und Postversand bei einer Auflagenhöhe von ein paar hundert noch aus der eigenen Tasche finanzieren, so war das bei ein paar tausend nicht mehr möglich. Zwar pumpte Sophie Scholl ihren Freund, der Offizier an der Ostfront war, immer wieder um größere Beträge an, aber große Aktionen waren auch damit nicht möglich.

 

Die Lösung brachte Eugen Grimminger.

Er war ein Freund des Vaters der Geschwister Scholl. Die beiden hatten sich während der gemeinsamen Ausbildung an der Verwaltungsschule kennen gelernt und Freundschaft geschlossen. Beide waren Pazifisten. Als Robert Scholl 1917 Bürgermeister von Ingersheim und Altenmünster wurde, traf er Eugen Grimminger wieder, der jetzt im wenige Kilometer entfernten Crailsheim beim Kommunalverband arbeitete. Er war, wie schon erwähnt, gebürtiger Crailsheimer, Jahrgang 1892, und hat bis 1922 hier gelebt. Nachdem er Jenny Stern, eine Jüdin, geheiratet hatte, was für die Crailsheimer ein Skandal war, zog das Paar ins größere Stuttgart, wo sie niemand kannte. Er arbeitete für den Württembergischen Genossenschaftsverband als Revisor, verlor diese Anstellung aber 1935, zweieinhalb Jahre nach Machtantritt der Nazis, wegen seiner jüdischen Frau. Er machte sich selbständig und eröffnete ein Treuhand- und Steuerberatungsbüro in Stuttgart.

 

Die selbe Tätigkeit übte der Vater der Geschwister Scholl seit 1931 in Ulm aus. Als 1942 eine Angestellte Robert Scholls ihn bei der Gestapo anzeigte, weil er Hitler in ihrer Gegenwart als die größte Gottesgeißel bezeichnet hatte und meinte „wenn der Kerl so weiter macht, steht in zwei Jahren der Russe in Berlin“, wurde er zu einer viermonatigen Gefängnisstrafe verurteilt, die er im August antreten musste. Robert Scholl bat darauf hin seinen Freund Grimminger, ihn in seiner Kanzlei, so gut es nebenher geht, zu vertreten. Dazu war Eugen Grimminger auch bereit und hielt sich deshalb immer wieder in der Scholl’schen Kanzlei und Wohnung in Ulm auf.

 

Zur selben Zeit, im August und Oktober, musste Sophie Scholl in den Ferien in einem Ulmer Rüstungsbetrieb als Fabrikarbeiterin einen achtwöchigen „Kriegshilfsdienst“ ableisten, durfte aber zu Hause schlafen. Vermutlich lernte sie damals Eugen Grimminger als einen zuverlässigen Nazigegner kennen, und als Alexander Schmorell und Hans Scholl ihn im Dezember 1942 in Stuttgart aufsuchten, um ihm ihre Pläne zu erläutern und um finanzielle Unterstützung zu bitten, sagte er diese ohne Zögern zu.

 

Mit dieser finanziellen Basis konnte das fünfte Flugblatt in einer Auflage von mehreren tausend Exemplaren gedruckt und verbreitet werden. Wie schon erwähnt, stand im Kopf „Flugblätter der Widerstandsbewegung in Deutschland“ und darunter „An alle Deutschen“.

 

Auch dieses Mal stammt der Text des Flugblatts wohl von Alexander Schmorell und Hans Scholl; vielleicht hat Prof. Huber es überarbeitet. Im Ton unterscheidet es sich deutlich von den vorhergehenden. Zwar wird noch „ein schreckliches, aber gerechtes Strafgericht“ heraufbeschworen, das die ereilt, die sich feig und unentschlossen verborgen hielten. Aber es überwiegt ein argumentierender Stil, wenn anhand von Fakten nachgewiesen wird, dass Hitler den Krieg nicht gewinnen, sondern nur noch verlängern kann.

 

Einen relativ großen Anteil hat der Ausblick auf Deutschland und Europa nach dem Krieg und was da formuliert wurde, klingt recht modern:

 

-          „Der imperialistische Machtgedanke muss, von welcher Seite er auch kommen möge, für alle Zeit unschädlich gemacht werden“.

-          „Nur in großzügiger Zusammenarbeit der europäischen Völker kann der Boden geschaffen werden, auf welchem ein neuer Aufbau möglich sein wird.“

-          „Das kommende Deutschland kann nur föderalistisch sein“.

-          „Die Arbeiterschaft muss durch einen vernünftigen Sozialismus aus ihrem Zustand niedrigster Sklaverei befreit werden“.

-          „Jedes Volk, jeder einzelne hat das Recht auf die Güter der Welt“.

-          „Freiheit der Rede, Freiheit des Bekenntnisses, Schutz des Einzelnen vor der Willkür verbrecherischer Gewaltstaaten, das sind die Grundlagen des neuen Europa“.

 

Ganz offensichtlich steht der europäische Gedanke über dem nationalen.

 

Ich möchte in diesem Zusammenhang kurz auf die Schwierigkeiten und Gefahren hinweisen, die die Herstellung und Verbreitung eines Flugblattes in einer so großen Auflage unter Kriegsbedingungen und unter einer skrupellosen Diktatur mit sich brachte. Wir als Bürger eines Europa, wie es sich die Studenten der „Weißen Rose“ erträumt haben, können uns das kaum noch vorstellen.

 

Es war schon nicht ganz einfach, in den Besitz eines Vervielfältigungsgerät, eines handbetriebenen sog. Spirit-Carbon-Umdruckers und der dazu notwendigen Wachsmatrizen zu kommen, weil man natürlich gefragt wurde, wozu man das brauche. Man musste sich schon eine gute Ausrede einfallen lassen, um keinen Verdacht zu erregen.

Eine zweite Schwierigkeit war, an die nötige Menge Papier zu kommen in Kriegszeiten, in denen das Papier knapp war. Zudem kann man bei diesem Druckverfahren nur stark saugendes Papier verwenden - in Deutschland hieß es „Saugpost“ – und jeder Papierhändler konnte zumindest ahnen, dass derjenige, der solches Papier verlangt, etwas vervielfältigen wollte.

Eine dritte Schwierigkeit war das Beschaffen von Briefumschlägen und Briefmarken. Wer davon eine große Menge kaufen wollte, machte sich unweigerlich verdächtig und musste damit rechnen, dass der Ladenbesitzer oder Schalterbeamte heimlich die Gestapo rief. Die Deutschen waren ja zur Denunziation erzogen worden.

 

Ein Indiz, das später dazu beitrug, die Geschwister Scholl der Täterschaft zu überführen, war die Tatsache, dass sie in ihrer gemeinsamen Wohnung ungewöhnlich viele 8-Pfennig-Briefmarken aufbewahrten – soviel kostete damals ein Brief.

 

Das Beschaffen von Adressen war nur mühsam, nicht gefährlich, aber hätte man die Briefe alle in München in den Briefkasten geworfen, hätte die Gestapo bald gewusst, dass sie ihre Ermittlungen auf München konzentrieren kann. Deshalb packten sie ihre Flugblätter in Koffer und Rucksäcke und transportierten sie mit der Bahn z. B. nach Frankfurt, Stuttgart, Wien, Linz,  Freiburg, Saarbrücken, Mannheim oder Karlsruhe, um sie dort in den Briefkasten zu werfen. Das war ein lebensgefährliches Unternehmen, denn auf den Bahnhöfen und auch in den Zügen wimmelte es von Kontrolleuren der Wehrmacht, der Polizei oder auch Gestapo.

 

Ein Teil der Auflage des fünften Flugblatts wurde nachts in den Straßen Münchens ausgestreut. Dabei bedienten sie sich der Straßenbahn. Jeder Straßenbahnwaggon hatte damals vorne und hinten eine offene Plattform. Also stellten sie sich spät nachts auf die hinterste  Plattform eines Straßenbahnzugs und ließen die Flugblätter auf die Straße flattern. Nach ein paar Stationen stiegen sie aus und fuhren mit einer anderen Linie weiter.

Mit dieser Art der Verteilung konnte man natürlich weit größeres Aufsehen erregen, als mit dem Postversand.

 

„Die Nacht ist des Freien Freund“ sagte Sophie Scholl Anfang Februar 1943 zu ihrer Schwester Elisabeth, ein Lied des erst kürzlich in Russland gefallenen Ernst Reden zitierend, den sie beide aus Ulmer Tagen kannten.

Der Anlass war, dass Sophie meinte, man müsse große Wandanschriften mit Teerfarbe machen, was Elisabeth für sehr gefährlich hielt.

 

Am nächsten Morgen, dem 3. Februar, konnte man überall in der Münchener Innenstadt in meterhoher sauberer Schrift in Teerfarbe die Worte „FREIHEIT“ und „NIEDER MIT HITLER“ lesen.

 

 

Diese von Willi Graf, Alexander Schmorell und Hans Scholl  mit Schablone angebrachten Wandanschriften gaben ihnen die Möglichkeit, ein wirklich großes Publikum zu erreichen und gleichzeitig deutlich zu machen, dass die Nazis eben doch nicht allmächtig waren, dass sie es nicht verhindern konnten, dass mitten in München, der „Hauptstadt der Bewegung“, wie die Nazis München nannten, Anti-Naziparolen von den Mauern prangten. Am 8. und in der Nacht vom 15. auf den 16. Februar wiederholten sie die Aktion, wohl wissend, dass sie damit die Nazis zur Weißglut, aber auch die Gestapo und ihre Spitzel auf Hochtouren brachten.

 

Obwohl einer von ihnen dabei immer „Schmiere stand“, war die Sache riskant. Immerhin mussten sie sich mit den großen Schablonen, den Farbeimern und Pinseln durch die Innenstadt bewegen, die in einer Großstadt wie München auch nachts und in Kriegszeiten nie ganz menschenleer war.

 

Das sechste und letzte Flugblatt der „Weißen Rose“ erschien vor dem Hintergrund eines großen, welterschütternden und eines kleinen, aber lokal wichtigen Ereignisses.

 

Das große Ereignis war der Untergang der 6. Armee im Kessel von Stalingrad. Nachdem sie Stalingrad fast völlig eingenommen hatte, war die 6. Armee von der Roten Armee in einer Gegenoffensive eingekesselt worden. Vom Nachschub auch aus der Luft fast völlig abgeschnitten, gingen Nahrung und Munition schnell zur Neige. Obwohl die Lage völlig aussichtslos war, verbot Hitler sowohl einen Ausbruchversuch als auch die Kapitulation. Als General Paulus für das Gros der Truppen am 31. Januar doch kapitulierte - der Rest kapitulierte am 2. Februar - waren von 280.000 deutschen Soldaten 146.000 gefallen, 90.000 gingen in die russische Gefangenschaft.

 

Hitler hatte diese Menschen völlig sinnlos seinem persönlichen Stolz und Wahn geopfert und jeder der wollte, konnte erkennen, dass nun endgültig die Wende in diesem Krieg gekommen war. Von nun an marschierten Hitlers Armeen rückwärts.

 

 

Nun zum zweiten, „kleinen“ Ereignis:

 

Am 13. Januar 1943 rief der NS-Parteiführer von München und Oberbayern, Gauleiter Paul Gießler, die Studenten zu einer Vollversammlung im Kongresssaal (das sieht entsetzlich aus) des Deutschen Museums zusammen. Die Anwesenheit war Pflicht und die Studenten wurden mit einem Stempel auf dem Handrücken „markiert“. Ohne diesen Stempel, so wurde ihnen bedeutet, könnten sie sich im nächsten Semester an keiner deutschen Universität mehr immatrikulieren. Anlass war der 470. Jahrestag der Gründung der Münchener Universität.

Das ist eigentlich ein eigenartiges Datum, denn normalerweise begeht man ja den100sten, 125sten, 150sten, 175sten usw. Jahrestag. Aber vielleicht ahnten die Nazis, dass ihnen keine fünf Jahre mehr bleiben würden.

 

Nachdem er zunächst mit den üblichen Propagandasprüchen langweilte, verstieg er sich zu der Aussage, die Studentinnen sollten, anstatt sich an der Universität herumzudrücken, lieber dem Führer ein Kind gebären. Und wenn sie nicht hübsch genug seien und keinen Freund hätten, würde er ihnen gerne seine Adjutanten zuführen.

 

Es kam zu einem riesigen Tumult. Die Studentinnen verließen unter Protest den Saal, wurden aber von Ordnungskräften umzingelt.

 

Die weiteren Berichte sind etwas widersprüchlich und nach dem die Studentinnen und Studenten aus dem Umkreis der „Weißen Rose“ - auch die, die das „Dritte Reich“ überlebt haben  -  diese Versammlung boykottiert hatten, waren sie auf das Hören-Sagen angewiesen.

 

Einer Version zufolge waren die Studentinnen in einen Raum abgedrängt und quasi verhaftet worden, worauf die männlichen Studenten den NS-Studentenführer als Geisel nahmen (in Deutschland galt das Führerprinzip und es gab überall und für alles Führer und Unterführer), bis ihre Kommilitoninnen frei gelassen wurden und der Gauleiter sich entschuldigte.

 

Das war für Nazi-Deutschland vor allem seit Kriegsbeginn ein unerhörtes und eigentlich nicht vorstellbares Ereignis, das die Vermutung  aufkommen lassen konnte, dass sich an den Universitäten unter der trägen Oberfläche eine hochexplosive Mischung gebildet habe, die jederzeit explodieren könne.

 

Vor dem Hintergrund dieser beiden Ereignisse entstand das sechste Flugblatt unter den beiden Prämissen:

 

  1. Stalingrad musste den Menschen die Augen öffnen für die Tatsache, dass Hitlers militärisches Abenteuer gescheitert war und er Deutschland in den Untergang führte.
  2. Unter den Studenten gärt es und es gibt eine latente Bereitschaft sich zu widersetzen.

 

Unter der Überschrift

„Kommilitoninnen! Kommilitonen!“ wandte sich dieses Flugblatt gezielt an die Studentenschaft.

 

Der erste Absatz beginnt mit den Worten „Erschüttert steht unser Volk vor dem Untergang der Männer von Stalingrad“ und endet mit einer von der Nazi-Propaganda ständig wiederholten Floskel „Führer, wir danken dir!“

 

Dann heißt es: „Es gärt im deutschen Volk: wollen wir weiter einem Dilettanten das Schicksal unserer Armeen anvertrauen? Wollen wir den niedrigsten Machtinstinkten einer Parteiclique den Rest unserer deutschen Jugend opfern? Nimmermehr! Der Tag der Abrechnung ist gekommen, der Abrechnung der deutschen Jugend mit der verabscheuungs-würdigsten Tyrannis, die unser Volk je erduldet hat.“

 

Im Folgenden wird an den Erfahrungen  junger Menschen mit der Nazidiktatur angeknüpft:

 

„In einem Staat rücksichtsloser Knebelung jeder freien Meinungsäußerung sind wir aufgewachsen. HJ, SA und SS haben uns in den fruchtbarsten Bildungsjahren unseres Lebens zu uniformieren, zu revolutionieren, zu narkotisieren versucht.“

 

Auch auf die Ereignisse im Deutschen Museum nimmt das Flugblatt Bezug:

 

„[...] Gauleiter greifen mit geilen Späßen den Studentinnen an die Ehre. Deutsche Studentinnen an der Münchner Hochschule haben auf die Besudelung ihrer Ehre eine würdige Antwort gegeben, deutsche Studenten haben sich für ihre Kameradinnen eingesetzt und standgehalten.“

 

Und weiter:

 

„Es gibt für uns nur eine Parole: Kampf gegen die Partei! Heraus aus den Parteigliederungen, in denen man uns weiter politisch mundtot halten will! Heraus aus den Hörsälen der SS-Unter- und Oberführer und Parteikriecher! Es geht uns um wahre Wissenschaft und echte Geistesfreiheit!“

 

Noch einmal nimmt das Flugblatt den Bezug zu Stalingrad auf und zieht die Konsequenzen:

 

„Auch dem dümmsten Deutschen hat das furchtbare Blutbad die Augen geöffnet, das sie im Namen von Freiheit und Ehre der deutschen Nation in ganz Europa angerichtet haben und täglich neu anrichten. Der deutsche Name bleibt auf immer geschändet, wenn nicht die deutsche Jugend endlich aufsteht, rächt und sühnt zugleich, ihre Peiniger zerschmettert und ein neues geistiges Europa aufrichtet.“

 

Den Entwurf für dieses Flugblatt hat im Wesentlichen Prof. Huber verfasst und die Studenten haben ihn auch fast ohne Änderung übernommen. Einen Satz jedoch haben sie gestrichen und das wirft ein Licht auf die unterschiedlichen Geisteswelten der älteren und der jüngeren Generation – den Satz: „Unterstellt euch auch weiterhin unserer herrlichen Wehrmacht!“

 

Für die Studenten war die Wehrmacht keine über den Dingen stehende Einrichtung mit eigenen Werten, sondern das Werkzeug Hitlers in diesem Krieg, der seinerseits die Voraussetzung für die Aufrechterhaltung seiner Macht war.

 

Und sie behielten sich bei aller Wertschätzung des Älteren die letzte Entscheidung vor.

 

Anders als die vorausgegangenen fünf Flugblätter sollte dieses Flugblatt nicht über den Postweg verbreitet werden. Sie hatten die Beobachtung machen müssen, dass auf die bisherigen Flugblätter keine wahrnehmbare Reaktion erfolgt war, und das lag in der Natur der Sache. Die Empfänger waren isoliert voneinander und konnten auch nicht wissen, wer ihnen das Flugblatt zugeschickt hatte. Es hätte auch eine Provokation der Gestapo sein können, die sehen wollte, ob der Erhalt zur Anzeige gebracht werden würde. Eine Unterlassung war mit Gefängnisstrafe bedroht.

 

Daraus ergab sich als logische Schlussfolgerung, dass das an die Studenten gerichtete Flugblatt dort verbreitet werden musste, wo die Studenten verkehrten und miteinander kommunizierten: an der Universität selber.

 

Es war wohl Hans Scholl, der diesen Gedankengang entwickelt hatte und es war keine Frage, dass er sich selbst an der Ausführung beteiligen würde, nur konnte ein Einzelner diese Aufgabe nicht bewältigen. Zum ersten Mal lehnte sein engster Mitstreiter Alexander Schmorell die Mitarbeit ab. Dies war eine Sache auf Leben und Tod, die die Deutschen selbst übernehmen sollten. Er selbst fühlte sich aufgrund seiner russischen Abstammung mütterlicherseits mehr als Russe denn als Deutscher. Christoph Probst war wohl zur Mitarbeit bereit, aber das lehnten die Anderen ab, da Christoph als Einziger verheiratet war und seine Frau erst vor kurzem mit dem dritten Kind niedergekommen war. Also übernahm Sophie Scholl diese Aufgabe.

 

Am Vormittag des 18. Februar 1943 begaben sie sich zur Universität und legten, während die Vorlesungen noch in vollem Gange und die Flure und Treppenhäuser menschenleer waren, die Flugblätter in Stapeln vor den Hörsälen aus. Dann verließen sie die Universität durch einen Hinterausgang, mussten aber feststellen, dass sich noch ein Rest von Flugblättern im Koffer befand. Sie machten kehrt, stiegen ganz nach oben in den dritten Stock und kippten den Inhalt des Koffers über die Brüstung in den Lichthof. Im selben Moment waren die Vorlesungen zu Ende, die Hörsaaltüren öffneten sich und sie mischten sich unter die herausströmenden Studenten.

 

Aber sie waren von einem Hausmeister beobachtet worden, der auf diese Weise seinen Namen verewigt hat - er hieß Jakob Schmidt. Er stürmte auf die beiden zu und erklärte sie für verhaftet. Obwohl Hans Scholl ihm körperlich weit überlegen war, ließen sie sich widerstandslos verhaften und abführen. Vielleicht erhofften sie von ihren Kommilitonen eine ähnliche Reaktion, wie damals im Deutschen Museum, und als diese ausblieb, war es zu spät.

 

Um diese letzte Aktion der „Weißen Rose“ ranken sich viele offene Fragen und Spekulationen, die wohl nie eine endgültige Antwort finden werden, weil alle aus dem engsten Zirkel ums Leben gebracht wurden.

 

Im Amtszimmer des Universitätsrektors, in dem sie zunächst festgehalten wurden, bemerkte Hans Scholl plötzlich, dass sich in der Brusttasche seines Jacketts ein Flugblattentwurf von Christoph Probst befand – ein sehr kluger Text übrigens. Er versuchte das Blatt zu zerreißen und zu verschlucken, wurde aber überwältigt. Anhand von Briefen, die bei der Durchsuchung der Wohnung der Geschwister Scholl gefunden wurden, war aufgrund von Schriftvergleichen schnell klar, wer der Autor des Entwurfs war und seine Verhaftung folgte auf dem Fuße.

 

Nach anfänglichem Leugnen mussten sie angesichts der drückenden Beweislast schließlich zugeben, dass sie für die Flugblattserie verantwortlich waren.

 

Am 22. Februar 1943 fand im Münchner Justizpalast der Prozess gegen Christoph Probst, Hans Scholl und Sophie Scholl statt, zu dem eigens der Präsident des Volksgerichtshofs, der berüchtigte Roland Freisler, anreiste. In allen drei Fällen wurde das Todesurteil verhängt und noch am selben Tag vollstreckt.

 

In schneller Folge wurden auch die anderen direkt oder indirekt Beteiligten, aber auch Unbeteiligte, ausfindig gemacht und verhaftet. Nur wenige, wie Jürgen Wittenstein oder Hubert Furtwängler blieben unentdeckt.

 

Am 19. April 1943 fand ein zweiter Prozess statt, in dem Willi Graf, Prof. Kurt Huber und Alexander Schmorell zum Tode verurteilt wurden. Es wurden Gefängnis- und Zuchthausstrafen zwischen einem halben und zehn Jahren verhängt.

 

Eugen Grimminger wurde zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt. Natürlich war klar, dass so lange das „Dritte Reich“ keinen Bestand mehr haben würde. Aber durch seine Inhaftierung verlor seine jüdische Frau den Schutz, den bisher in Mischehe lebende Juden noch genossen. Sie wurde im Dezember in Auschwitz ermordet.

 

In einem dritten Prozess am 13. Juni 1943 wurden Harald Dorn, der Schwiegervater von Christoph Probst, der Kunstmaler Wilhelm Geyer und der Architekt Manfred Eickemeyer zu Gefängnisstrafen zwischen drei und sechs Monaten verurteilt. Ihnen konnte eigentlich gar nichts nachgewiesen werden.

 

Nach der Zerschlagung der „Weißen Rose“ übernahm es in Hamburg ein Kreis von Studenten und Intellektuellen, die Flugblätter der „Weißen Rose“ nachzudrucken und zu verbreiten. Auch dieser Kreis wurde von der Gestapo aufgedeckt. Acht Menschen fanden den Tod: Hans Konrad Leipelt, Greta Rothe, Reinhold Meyer, Frederick Geussenhainer, Käthe Leipelt, die Mutter von Hans Konrad, Elisabeth Lange, Kurt Ledien und Margarethe Mrosek.

 

 

 

Sicher war manches in der illegalen Arbeit der „Weißen Rose“ dilettantisch und mehr Professionalität hätte vielleicht das eine oder andere Menschenleben gerettet. Aber man muss sich auch vor Augen führen, dass diese Studenten alle aus gutbürgerlichen Familien stammten, die noch nie mit dem Gesetz in Konflikt geraten waren. Von ihren ersten Schritten in die Illegalität bis zu ihren letzten gefährlichen Aktionen blieben ihnen gerade neun Monate, um ihr „Handwerk“ zu erlernen. Fehler waren dabei fast unvermeidlich.

 

Keiner der unmittelbar Betroffenen hat einem anderen je einen Vorwurf gemacht. Sie sind aufrecht in den Tod oder ins Gefängnis gegangen.

 

Am Schluss soll der letzte Satz aus dem Vernehmungsprotokoll von Sophie Scholl stehen:

 

„Ich bin nach wie vor der Meinung, das Beste getan zu haben, was ich gerade jetzt für mein Volk tun konnte. Ich bereue deshalb meine Handlungsweise nicht und will die Folgen, die mir aus meiner Handlungsweise erwachsen, auf mich nehmen.“

 

Unterschrieben: „Sophie Scholl“