Der Mensch gleicht einem Baum. Wie der Baum will er nach oben wachsen und zugleich im Boden
verwurzeln. Wie ein Baum strebt er dem Licht entgegen und verkümmert im Dunkeln. Wie ein Baum
möchte er sich entfalten, sich weit und kräftig der Welt öffnen
Je mächtiger Bäume ihre Äste in die Runde strecken, je fülliger ihr Blattwerk im Saft steht,
um so weitläufiger und tiefer und fester verankert sich ihr Wurzelgeflecht in der Erde. An
Eichen kann man das besonders gut sehen. Fast kreisrund wächst unter einer gesunden und alten
Eiche nur noch Gras, das Strauchwerk ist längst an den Rand gedrängt. Dessen Wurzeln finden
unterhalb der Eiche keine Nahrung mehr.
Auch der Mensch sehnt sich nach Boden unter den Füßen, doch im Gegensatz zum Baum muss er sich
selbst darum kümmern. Gläubige Menschen wählen dafür Gott als Urgrund und Mutterboden ihres
Daseins und als Weg zu diesem Urgrund wählen sie die vielfältigen Formen von Gebet. Wer
aufrichtig betet, bringt sein Leben vor Gott zur Sprache. Dabei erfährt er, wie Gott im Laufe
der Zeit immer mehr in seinem Leben Raum bekommt, wie sich Trost und Friede auch in leidvollen
und schweren Stunden in seinem Inneren einnisten. Dieser Weg geht in der Regel unauffällig und
langsam vor sich, genau so klammheimlich, wie ein Baum sein Wurzelwerk vergrößert.
Wird für den Baum das Wasser knapp, rollt er seine Blätter und wirft sie schließlich ab. Jetzt
nämlich braucht er seine Kraft, um seine Wurzeln tiefer in den Boden zu senken, dem Grundwasser
entgegen.
Was für den Baum der Wassermangel bedeutet, fühlt der Mensch als seelische Leere, als innere
Not. Diese geistige Dürre ist ein sicheres Zeichen dafür, dass es höchste Zeit ist, die
Alltagspflichten vorsichtig einzuschränken oder gar ganz aufzugeben. Jetzt gilt es, dass man
erneut zu Gott findet, ihn sucht, sich von ihm Kraft und Trost schenken lässt. Hat man seine
neue Standfestigkeit erhalten, kann man getrost die zukommenden Aufgaben anpacken. Man wird
sie meistern.
Und jeder Baum, der mit mächtiger Krone am Straßenrand steht, erinnert an dieses Geheimnis.
"Sich Zeit nehmen für Stille! Sie haben gut reden! Wenn Sie wüssten, wie hektisch mein
Arbeitstag ist! Für Zeit zur Stille ist da kein Platz! Und abends, abends, da bin ich so müde
und erschlagen, dass es gerade noch für ein Bier und einen Film im Fernsehen reicht zum
Abschalten, damit das Einschlafen leichter fällt!", so klagte mir neulich ein Mann sein Leid.
Dass er sich genau in diesem Augenblick für etwas ganz Wichtiges Zeit genommen hatte, fiel ihm
gar nicht auf. Ohne sich dessen bewusst zu sein, hatte er sich Zeit genommen, einem andern
gegenüber das auszusprechen, was ihn gerade bedrückte. Das hilft besser, als es stumm in sich
hineinzufressen. "Geteiltes Leid ist halbes Leid", weiß der Volksmund.
Doch genau an dieser Stelle wird es heikel. "Wem soll ich meinen Kummer anvertrauen? Dem
Nachbarn? Der versteht mich ja doch nicht! Dem Kollegen am Arbeitsplatz? Der hat genug mit
sich selbst zu tun! Den kann ich nicht auch noch mit meinem Kram belasten! Ich bin ja selbst
recht froh, wenn ich meine Ruhe habe. Warum soll es beim ihm anders sein? Dem Ehepartner? Die
wenige Zeit, die uns nach Feierabend bleibt, wollen wir nicht auch noch mit Sorgen belasten!"
So stichhaltig diese Gründe sind, sie erzeugen einen Teufelskreis: Es gibt offensichtlich
niemanden, dem man ohne schlechtes Gewissen seine Nöte anvertrauen kann.
Viele Menschen denken so und folgerichtig schlucken sie ihre Sorgen einfach runter. Nicht
wenige helfen unbewusst mit Zigaretten, Alkohol oder Süßigkeiten nach, damit es besser rutscht.
Doch Magen und Darm wissen sich zu wehren. Der Aussatz unserer Tage zeigt sich nicht mehr in
äußeren Geschwüren, sondern in inneren.
Gibt es wirklich niemanden, der immer ein offenes Ohr für mich hat, dem ich nie auf die Nerven
falle, dessen dickes Fell so stark ist, dass er sogar meine Wutausbrüche gelassen erträgt?
Gläubige Christen kennen eine solche Person. Sie nennen sie Gott Vater und vertrauen ihr
tagtäglich im Gebet ihren Unmut, ihre Last, ihren Hader und ihre Sorgen an. Sie erfahren dabei,
dass es ihnen gut tut, dass ihr seelisches und körperliches Wohlbefinden sich steigert. Das gibt
ihnen zusätzliche Kraft für den Tag.
Ein leidenschaftlicher Jäger berichtete mir, was er so fühlt, wenn er in kristallklarer
Winternacht bei bitterer Kälte, warm eingemummt und die Büchse im Anschlag, auf dem Ansitz auf
einen Fuchs zum Abschuss wartet. Zuerst, so erzählte mir der Bekannte, steige der ganze Ärger
des Tages auf, manchmal sogar ein unausgestandener Streit mit einem Arbeitskollegen oder mit
jemandem aus der eigenen Familie. In dieser Zeitspanne müsse er sich eisern beherrschen, nicht
laut vor sich hin zu schimpfen, damit er ja nicht unnötig lärme und das Wild vertreibe. Doch
habe er diesen Zeitabschnitt glücklich überstanden, kehre Gelassenheit ein. Und danach, so
betonte er, komme der allerwichtigste Augenblick, jener Zeitpunkt nämlich, wenn in ihm drin
alles ganz still werde, feierlich still.
Meist dauere dieser Augenblick wirklich nur wenige Minuten, aber diese wenigen Minuten gäben
ihm Kraft für den Alltag. Diese wenigen Minuten seien für ihn das Kostbarste der ganzen
nächtlichen Jagd.
Nun ist nicht jeder Mensch ein leidenschaftlicher Jäger, doch diese Erfahrung der kostbaren
Stille ist jedem von uns möglich. Dazu braucht man keinen Jägerstand erklimmen, dazu genügt es,
sich ein bisschen Zeit zu nehmen. Da ist zum Beispiel die letzte Warteminute an der
Bushaltestelle. Zum bewussten tief Durchatmen reicht sie allemal. Selbst ein Stoßgebet hat
noch Platz darin.
Im Bus selbst ist bestimmt noch Luft für eine kleine unauffällige Körperübung. "Wie sitze ich
da? Wie nehme ich mich selbst wahr? Spüre ich meine Füße in den Schuhen? Fühle ich die Haut,
auf der ich soeben sitze? Womit beschäftigen sich gerade meine Hände?"
So lächerlich mancher Vorschlag sich anhören mag, solche kleinen Übungen helfen, für wenige
Augenblicke ganz da zu sein, ganz bei sich zu sein. Auch am Steuer des eigenen Wagens, wenn
man vor der roten Ampel steht, reicht die Zeit für ein Bittgebet.
Schon kleinste Anfänge genügen, dass man den eigenen Alltag und damit sich selbst ändert.
Der erste Schritt, sich neu zu finden, ist damit getan.
Nichts reizt Kinder mehr als eine brennende Kerze. Schon Kleinkinder bestaunen andächtig
die Kerzenflamme, und manche Mutter hat ihre liebe Not damit, dass ihr Kind nicht in die
Flamme fasst, so anziehend wirkt Kerzenlicht.
Kein Kindergeburtstag, kein festlich gedeckter Tisch, kein vertrautes Beisammensein bei leiser
Musik und einem guten Tröpfchen Wein sind denkbar ohne brennende Kerzen. Kerzenlicht haben die
meisten Menschen gern. Kerzenschimmer zaubert Geborgenheit. Kerzenschein verlangt nach Stille.
Nicht umsonst stellen alle großen Religionen der Welt das Kerzenlicht in ihren Dienst.
Im Christentum kennt man die Kerzen am Adventskranz, am Christbaum, brennende Kerzen
im Gottesdienst oder am Sarg eines Verstorbenen.
Katholischen Christen vertraut ist zusätzlich das Heilige Licht, eine kleine Öllampe, die vor
jenem Ort brennt, an dem das Heilige Brot aufbewahrt wird, und vor dem so mancher in stiller
Anbetung verharrt. In jeder Heiligen Messe brennt die Osterkerze als Zeichen dafür, dass
Christus den Menschen Licht in ihre finstere Seelenwelt gebracht hat.
Kerzen helfen dem Menschen, sich in eine andere Welt zu versetzen. Eine Kerze zündet sich rein
gefühlsmäßig anders an als ein Gasherd. Man ist innerlich mit einer anderen Stimmung dabei.
Zu staunen, wie der Docht aufglimmt, es ein paar Mal knistert, bis die volle Flamme aufleuchtet,
die dann ihren stillen Schein so sanft verbreitet, dass sie die letzten Winkel eines Zimmers im
dämmrigen Dunkel lässt. Der Lichtschein engt den Gesichtskreis ein und hilft dem Menschen, bei
sich selbst zu bleiben und das lärmende Drumherum, den Rummel des Alltags ein Stück weit
wegzuschieben.
Wer sich im Laufe des Tages ein paar Minuten Zeit nimmt, eine Kerze anzündet und ein wenig vor
ihr verweilt, wird - ohne großes Zutun und ohne irgendwelche Worte zu machen - etwas von dem
verspüren, was die Kraft wirklichen Betens ausmacht: Fast ganz von selbst tritt Stille ein.
Trost und Erleichterung senken sich ins Herz.
Nichts hält Leib und Seele besser zusammen als ein gutes Essen, solange man nur nicht
zuviel davon zu sich nimmt. Drückt die Mahlzeit auf den Magen, ist die gute Laune schnell
dahin. Wann das rechte Maß erreicht ist, merkt man, wenn Essen Mühe macht.
Ähnlich verhält es sich mit dem Gebet. Wenn Beten Mühe macht, besteht der Verdacht, dass hier
des Guten zuviel getan wird. Es ist nicht wahr, wenn Menschen so leicht dahin behaupten, beten
könne man nie genug. Wer einen solchen Rat befolgt, gerät leicht in eine Gewohnheit, in der
Beten erstarren kann. Auf die richtige Mischung kommt es an!
Das ist auch beim Essen so. Immer das gleiche Einerlei auf dem Teller verdirbt uns, die wir im
Überfluss an Nahrung leben, rasch den Appetit. Abwechslung tut not. So wie Quark, Käse,
Marmelade, Honig, Obst, Joghurt, verschiedene Wurstsorten unser Frühstück bereichern, so
belebt vielgestaltiges Beten in Form von Schweigen, Innehalten, Betrachten, Staunen, Verehren,
Loben, Danken und Singen unser Gebetsleben. Beten ist mehr, als nur fromme Worte aneinander
reihen. Beten geschieht überall dort, wo unser Innerstes von Stille und Frieden berührt wird.
Texte aus religiösen Büchern sind zwar brauchbare Hilfsmittel, aber eben nur solange es nicht
auch anders geht.
Wer essen kann, braucht nicht künstlich ernährt zu werden. Doch so wie zum Essen nicht bloßes
Kauen genügt, sondern erst ein sauberer Teller und Essbesteck zum Wohlsein beitragen, so
bereichern Mitmenschen, Bücher, Schallplatten, Kassetten und Gottesdienste das Beten.
Ein Vesperbrot essen kann ich allein, ein Festessen dagegen braucht Gäste. So ist festliches
Beten immer zugleich gemeinschaftliches Beten. Zum Festgottesdienst gehört Gemeinschaft, die
mitfeiernde Gemeinde.
Geregelte Mahlzeiten verhelfen zu einer gesunden Lebensweise. Sie belasten den Körper weniger,
steuern eine geordnete Verdauung und fördern das Wohlbefinden. Geregeltes Beten, nicht starres
wohlgemerkt, fördert die seelische Gesundheit und macht offen dafür, dass man Gott seinen
seelischen Druck übergeben kann.
Plötzlich war sie da. Wann sie kam, daran erinnere ich mich nicht mehr. Aufgefallen ist sie
mir erst, als sie sich zum wiederholten Male meldete, jene kleine Melodie, die sich in mein
Ohr einnistete und mir den ganzen Tag über immer wieder in den Sinn kam.
So ein Ohrwurm hat es in sich. Meist besteht er aus einer einfach aufgebauten, eingängigen
Melodie mit vielen kleinen Wiederholungen. Den ganzen Tag hindurch begleitet so ein kleines
Lied den Menschen, verborgen schlummert es eine Weile im Herzen, bis es plötzlich in einer
weniger wichtigen Minute innerhalb des Arbeitstages im Innern des Kopfes zum Singen oder
Mitsummen anregt und dann wieder hinabtaucht in die Versunkenheit, um bei nächster Gelegenheit
erneut an der Oberfläche zu klingen.
Ähnlich verhält es sich mit dem Gebet. Wer mit Beten vertraut ist, kennt jene Erfahrung, dass
sich ein stiller Gedankenzusammenhang mit Gott einstellt. Oft ist dieser feine Draht schon
beim Aufwachen da, blitzt mit einem Gefühl der Dankbarkeit auf und versinkt wieder, wie vom
morgendlichen Waschen weggespült, taucht kurz nach dem Frühstück auf dem Weg zur Arbeitsstelle
wieder auf, stimmt freudig, ermuntert zum fröhlichen Gruß und macht unbemerkt dem ersten
Arbeitsschwung Platz.
Ein solcher Tag ist ein Geschenk des Himmels. Da muss schon viel Belastung im Berufsalltag
dazwischenkommen, bis Gewitterwolken des Ärgers und des Zorns diese innere Großwetterlage
überdecken. Wie von einer inneren Sonne wärmend angestrahlt, nicht brennend und sengend, eher
heiter bis wolkig, nährt und stärkt sich das Gemüt an einer Kraft, die nicht aus ihm selbst
stammt. Und dankbar tankt sich die Seele auf, so reichlich wird sie beschenkt.
Nicht immer sieht man Menschen, die so etwas erleben, von außen an, was in ihnen vorgeht.
Manche wirken besonders liebenswürdig und heiter. Es geht einem das Herz auf, wenn man ihnen
begegnet. Andere hingegen erscheinen eher gefasst, ruhig, ja fast streng, standfest wie ein
Fels in der Brandung. Man spürt: Auf den kann man sich verlassen, wenn es mal hart auf hart
kommt.
In beiden Fällen steckt oft ein Mensch dahinter, der in Gott verankert ist.
"Merkst Du denn gar nicht, dass ich für Dich der letzte Dreck bin? Was habe ich Dir denn
getan, dass Du Dich mir gegenüber so gemein benimmst? Du bist ungerecht!" wettert Ijob im Alten
Testament gegen seinen Gott, als er zuerst durch Raub sein Vermögen, dann durch Sturm seine
vielen Kinder, schließlich durch bösartige Geschwüre von Kopf bis Fuß seine Gesundheit verliert.
Verspottet von seiner Frau, genervt durch die Moralpredigten und falschen Schuldzuweisungen
seiner Freunde, versinkt er in tiefe Niedergeschlagenheit, wünscht sich, er wäre nie geboren,
und hofft auf den erlösenden Tod. In seiner Not schreit er zu seinem Gott und wartet, wie es
zunächst scheint, vergeblich auf Antwort.
Instinktiv verhält sich Ijob richtig. Er gibt trotz aller Ohnmacht und Ratlosigkeit sein
Suchen nach Gott nicht auf, lässt den Kontakt zu ihm nicht abreißen, er betet. Zwar betet er
in einer Form, die gängigen Gottesdiensten fremd ist. Aber er bringt sein Leben und seine Not
vor Gott zur Sprache, und das ist zweifellos die ursprünglichste Form von Beten.
Unbemerkt von ihm selbst, beruhigt sich allmählich sein aufgewühltes Inneres. Er wird wach für
die Schönheiten dieser Welt, für die geheimnisvolle Ordnung im Wechselspiel des Wetters, für
die Harmonie des Sternenhimmels, dafür, dass jedes Tier auf dieser Welt seinen Platz hat,
eingefügt in ein höheres Ganzes. Er ahnt ein Geheimnis in dieser Schöpfung und verstummt
schließlich in andächtiger Stille vor der Macht und Weisheit, die dahinter verborgen
durchschimmert.
Frieden kehrt in sein Herz. Nun kann er sich ganz in die Hände Gottes fallen lassen, ganz tief,
ganz runter. Von dort aus beginnt seine Heilung, wächst ihm neue Lebenskraft zu. Schritt für
Schritt sehen seine Freunde ein, dass sie ihm Unrecht taten. Ihr Trost, jetzt echt und ohne
moralische Überheblichkeit, stärkt ihn. Er kann ein neues Leben beginnen, neu Vermögen und
Familie aufbauen. Auch sieht er nun über seinen privaten Horizont hinaus und erbittet für
seinen Nächsten Gottes Barmherzigkeit. Hochbetagt und satt an Lebenstagen, darf er von dieser
Welt Abschied nehmen.
Beten wendet Ijobs Leben, es klärt sein Bewusstsein, macht ihn aufmerksam und beruhigt ihn.
Die innere Wandlung trägt Früchte nach außen. Was er, begleitet vom Gebet, anpackt, wird gut.
Haben Sie das auch schon erlebt? Plötzlich durchfluten Sonnenstrahlen eine Lücke zwischen
dunklen Wolken und tauchen die Natur in ein besonders farbenkräftiges Bild.
Neulich war wieder so ein Augenblick! Lebhaft weiß mit feinroten Spitzen erstrahlte die
Kletterrose neben mir in üppiger Blütenpracht. Vom Boden her schmiegten sich die zartlila
Kelche der Mohnblumen an, auf saftigen Stängeln sitzend, umrahmt von milchig grünen Blättern.
Dazwischen leuchteten bunte Farbtupfer der Einjahresblumen von knallig gelb über blutorange
bis weinrot.Links daneben strotzte die Eibe sattgrün mit hellen, langen Spitzen und voller
Wuchskraft. Rot und weiß blühende Polsterstauden duckten sich unter violett schimmernden
Glockenblumen und ließen das Orange der Lilien leuchtender hervortreten. Das Lichtspiel der
Sonne betonte diese Pracht und zeigte die Natur von ihrer schönsten Seite.
Wie gebannt saß ich da und schaute. Ich konnte gar nicht anders, ich musste einfach schauen,
schauen und nochmals schauen. Stille umfing mich. Friede durchströmte mich. Dankbar nahm ich
ihn an als Geschenk Gottes. Jesu Wort aus den Seligpreisungen der Bergpredigt fiel mir ein:
"Selig, die ein reines Herz haben; denn sie werden Gott schauen" (Mt 5,8). Nicht sehen,
sondern schauen steht im Bibeltext. Schauen ist mehr als Hingucken, mehr als Beobachten, mehr
als Bemerken. Wer schaut, hält inne. Wer schaut, wird gewahr. Wer schaut, erkennt. Schauen
eröffnet den Zugang zur Tiefe, zum Eigentlichen, zu Gott.
Schauen lässt sich nicht erzwingen. Schauen bekommt man geschenkt. Doch in der Regel fällt ein
solches Erlebnis nicht vom heiteren Himmel. Man muss sich wach dafür machen, ein Gespür dafür
entwickeln. Das erfordert Zeit und vor allem Geduld mit sich selbst. Schauen braucht Stille,
benötigt Abstand vom Umtrieb des Alltags. Dazu kann man selbst beitragen, vielleicht schon
heute oder morgen. Schließlich steht die Urlaubszeit vor der Tür. Sie bietet einen günstigen
Einstieg, sich auf das Schauen neu einzustimmen. Wer sich schwer damit tut, beobachte einfach
kleine Kinder. Wie unbefangen können die schauen und staunen!
Gott sei Dank! Ich dachte schon, ich hätte in meinem bisherigen Leben mein Christentum
samt seinen Festen falsch gelebt und verstanden. Aber leicht erschrocken war ich schon, als
ich in einem Buch über Bibelzitate die Stichworte Freude, Feste und Feiern nicht vorfand. Zum
Glück besitze ich selbst eine Bibel, blätterte sie durch und fand im Alten Testament bei Jesus
Sirach, einem jüdischen Weisheitslehrer etwa um 180 v. Chr.:
"Herzensfreude ist Leben für den Menschen, Frohsinn verlängert ihm die Tage. Überrede dich
selbst, und beschwichtige dein Herz, halte Verdruss von dir fern! Denn viele tötet die Sorge,
und Verdruss hat keinen Wert. Neid und Ärger verkürzen das Leben, Kummer macht vorzeitig alt.
Der Schlaf des Fröhlichen wirkt wie eine Mahlzeit, das Essen schlägt gut bei ihm an. (Sir 30,22-25)
Nicht dass hier für ein oberflächliches Leben in Saus und Braus geworben wurde, frei nach dem
Motto: Lieber kurz gelebt als lang gedarbt! Dazu war der alte jüdische Weisheitslehrer viel zu
gescheit. Ihm ging es um Tieferes. Auch er wusste, dass im Leben manches hart kommt, dass einer
vor äußerer oder innerer Not und Angst nicht mehr ein und aus weiß. So wie er darüber schreibt,
hat er vermutlich selbst einiges durchgemacht. Ein alter Hase, ein erfahrener Fuchs, kein
labernder Moralapostel. Er war sich sicher: Das Leben braucht Pausen, Verschnaufpausen. Unsere
Zeit braucht Einschnitte, um nicht leerlaufgleich zu verrinnen. Unser Lebenslauf braucht Feste.
Feste gliedern die Zeit.
Wer ein Fest feiert, hält inne. Er erinnert sich. Alle unsere Familienfeste wie Namenstage,
Geburtstage, Hochzeits- und Arbeitsjubiläen sind Erinnerungsfeste. Feste haben ihre Wurzeln in
vergangenen Zeiten, sie beginnen nicht erst, wenn der Festtag da ist. Daher braucht ein richtiges
Fest seine Zeit der Vorbereitung. Auf ein richtiges Fest muss man hinleben, es erwarten, darauf
gespannt sein. Erst dann wird ein Fest mehr als ein flüchtiger Anlass für gutes Essen und
Trinken.
Wer ein Fest feiert, lädt Gäste ein. Nur mit anderen zusammen lässt sich's fröhlich sein.
Geteilte Freude ist doppelte Freude. Für sich allein kann man ein Glas Wein am Feierabend
genießen, aber für ein richtiges Fest fehlt das Gespräch, der Kontakt zum Mitmenschen. Feste
sind Stützen gegen die Einsamkeit. Wer ein Fest feiert, tankt auf, schöpft Kraft für die
Zukunft, hofft auf gute Tage. Die Glückwünsche an unseren Familienfesten bezeugen das.
Für kirchliche Feste gilt ähnliches. Nur reichen sie weiter als Familienfeste. Ihre Wurzeln
greifen über ein Menschenleben hinaus zurück in die Vergangenheit, eigentlich bis an den Anfang
der Welt, dem grundsätzlichen Ja Gottes zur Schöpfung, und damit zu uns. Auch wagen sie sich
weiter in die Zukunft. Jedes kirchliche Fest, angefangen bei den Hauptfesten Weihnachten,
Ostern und Pfingsten über die Heiligenfeste, Erntedank, Trauung, Erstkommunion und Firmung
oder Konfirmation bis hin zur Beerdigung, ist Vorbote, ist Vorahnung, ist Einstimmung für das
große Fest am Ende der Zeit bei Gott.
"Auch ich muss zur Zeit wieder durch ein dunkles Tal" schrieb mir vor Jahren eine Nonne.
Sie hatte sich einst bereit erklärt, eine innere Krise im Gebet mitzutragen, und ich hatte
mich bei ihr bedankt, nachdem ich aus der meinen geführt worden war. Seit dieser Zeit fühle
ich mich innerlich immer wieder mal angesprochen, für sie zu beten. Gottes Bodenpersonal
bleibt wie andere Menschen auch von Not und Leid nicht verschont.
"Ich bete für Sie." ist leicht gesagt und schwer getan. Anderer Menschen Not im Gebet vor Gott
zur Sprache zu bringen ist eine Angelegenheit, bei der mir jedes Mal mulmig wird. Es ist, als
ruhe eine zusätzliche Zentnerlast auf mir. Sitze ich in einer solchen Stunde vor dem Bild des
Gekreuzigten, strömen in mein Hirn so viele Gestalten, Schicksale und Hilfeschreie, dass ich
das Gefühl habe, mir platze der Schädel. Die meisten Gesichter bleiben schemenhaft, manche je
doch treten klar und deutlich hervor:
Ausgeweint haben die leeren Augen einer alleinerziehenden Mutter, deren zwölfjährigen Sohn wir
dem Abgott Verkehr geopfert haben, bis endlich der längst überfällige Radweg gebaut wurde. Um
Erbarmen flehend wirkt auf mich ein Familienvater, dem eine schwere Krankheit seine
Zukunftspläne glatt durchstrich. Schlaflose Nächte zeichnen das Gesicht seiner Frau. Abgründe
aus Angst und Verlassenheit verbauen einer Witwe den Weg in die eigene Selbstständigkeit. Wie
viel Gewalt hat wohl jenes Kind erlitten, das auf Worte nicht mehr reagiert? Abgeschottet und
verbockt wirkt die missbrauchte junge Frau. Hinter Bart und Brille versteckt sich der Mann, der
schon längst keinen Boden mehr unter seinen Füßen verspürt. Zur Wegwerfware erniedrigt und
gedemütigt ringt die verlassene Ehefrau um Selbstachtung.
Alles Schicksale in meiner Stadt, ein winziger Bruchteil dessen nur, was täglich auf der Welt
sich ereignet, und doch für mich wichtig, weil es mich in meinem eigenen Umfeld unmittelbar
trifft und daher etwas angeht.
Die anderen Schicksale, die mir das Fernsehen frei Haus mit den Nachrichten mal liefert, mal
unterschlägt, lassen in mir ein Gefühl der Ohnmacht aufkommen. Ich kämpfe dagegen an, indem
ich hoffe auf viele, mir unbekannte Mitbeter und Mitarbeiter an einer besseren Welt. Ich
vertraue darauf, dass es sie gibt. Die Welt wäre viel schlimmer dran, gäbe es nicht Anhaltspunkte
des Guten, Vorboten der kommenden Gottesherrschaft.
86 Millionen Tote schätzt die UNO als Ergebnis aller kriegerischen Auseinandersetzungen dieses
Jahrhunderts. Das Leid der Lebenden drumherum wird ausgeklammert, nur die Toten werden gezählt.
Wie einseitig nehmen wir wahr? Wo sind wir betroffen, wo nicht? Wer manipuliert unsere Gefühle,
unsere Ängste, unsere Betroffenheit? Welchen Scheinsicherheiten geben wir uns hin? Wer hilft
uns, wach zu werden für die Wahrheit, für die Not des Mitmenschen?
Was soll ich tun, wenn es mich selbst trifft?
Wie man seine Not vor Gott trägt, zeigt z.B. der Psalm 142: "Mit lauter Stimme schreie ich zum
Herrn, laut flehe ich zum Herrn um Gnade. Ich schütte vor ihm meine Klagen aus, eröffne ihm
meine Not. ... Vernimm doch mein Flehen; denn ich bin arm und elend."
Hätte ich nicht den Trost des Gebetes, mir bliebe nur die nackte Verzweiflung, so aber bin ich
mir voll bewusst, dass meine Fußsohlen nur wenige Quadratzentimeter brauchen, damit ich sicher
stehe. Ob auf freier Ebene oder am Rande des Abgrunds, es genügt die gleiche Standfläche für
sicheren Stand, solange ich nicht aus Angst das Gleichgewicht verliere. Mit Gottes Hilfe, so
hoffe ich, wird mir das gelingen und anderen ebenso.
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Wer kennt das nicht? Da fällt der Blick auf irgendeinen Text. Man hat sofort das Gefühl,
dass dieser Text etwas Wichtiges aussagt. Dennoch liest man nicht weiter. Gar zu mühsam müsste
man sich durch eine gekünstelte Sprache kämpfen, weit entfernt davon, wie man selbst spricht
und versteht.
Texte dieser Art haben oft mit Religion, Gott oder Glauben zu tun. Irgendwie hat sich bei uns
schleichend eingebürgert, dass man wichtige Dinge in noch gewichtigere Worte kleidet, bis sie
jedem so fremd sind, dass sie niemanden mehr etwas angehen.
Dabei geht es im Glauben ganz persönlich um mich, wie ich lebe, worüber ich mich freue, was
mich traurig macht, worauf ich hoffe, wonach ich mich sehne, wovor ich Angst habe, wem ich
vertraue, von wem ich geliebt werde und wen ich selbst gern habe.
Vertrauen auf Gottes Kraft brauche ich, wenn ich darauf bauen will, dass nicht alles
vergeblich ist, wofür ich mich abrackere. Fest auf Gottes Güte muss ich zählen können, wenn in
meinem Leben etwas so gründlich schief gelaufen ist, dass ich es gar nicht wiedergutmachen
kann, und ich trotzdem weiterleben darf, ohne seelisch daran zu zerbrechen. Voll verlassen
muss ich mich darauf, dass Gott auch für andere auf diese Weise da ist; denn sonst wäre ich
ganz allein auf mich gestellt, für alles zuständig und verantwortlich. Ich wäre glatt
überfordert.
Doch um mich herum leben und wirken viele Menschen, handeln mit gutem Willen und nach besten
Kräften, trotz mancher Rückschläge und Enttäuschungen. Sie kommen mir vor wie unzählige kleine
bergende Inseln in einem Meer von Unglücksfällen, Kriegen, Gewalt und Betrug. Zeigt sich darin
nicht die Absicht Gottes, dass alles einmal gut wird? Ganz gut, endgültig gut? Sind sie nicht
Vorboten für das "Reich Gottes", von dem der biblische Jesus so oft gesprochen hat?
Ist das nicht Grund genug, dankbar zu sein und andere auf diese Spuren des Guten aufmerksam zu
machen? Das müsste eigentlich gefeiert werden! Täglich? Sonntäglich? Dankfeier? Eucharistiefeier,
so lautet das griechische Fremdwort dafür. Nicht von ungefähr ist sie die geistige Mitte jeder
anglikanischen, katholischen oder orthodoxen Kirchengemeinde. Hier wird der Glauben gefeiert
und weitergesagt. Hier wird gehofft, dass die Welt sich verändert, unauffällig zwar, aber
unaufhaltsam so, wie Gott sie haben will, bis hin zum "Reich Gottes".
80 000 bis 100 000 Menschen gebrauchen allein in den westlichen Bundesländern illegale
Drogen, 1,5 bis 1,8 Millionen sind alkoholkrank und über 800 000 nehmen regelmäßig
Beruhigungs- und Schlafmittel ein. Keine Statistik erfasst die Dauerfernseher oder sich
abrackernde Arbeitswütige.
Offensichtlich haben viele Menschen solche Mittel nötig, um ihr Leben erträglicher zu
gestalten.
Braucht der Mensch das eigentlich? Ein Arzt erklärte mir einmal, der Mensch benötige, um
gesund zu bleiben, fünf Dinge: eine warme, trockene Wohnung, abwechslungsreiche Kost,
wetterfeste Kleidung, ausreichend Schlaf und ein angemessenes Sexualleben.
Ich bin überzeugt, der Mensch braucht mehr. Er ist angewiesen auf Begegnung, Nähe, Austausch,
Zuwendung, Trost, Liebe und Geborgenheit.
Ein Plausch mit dem Nachbarn, und sei es bloß übers Wetter, stimmt die Seele leichter und
heiterer. Wie kostbar Liebe und Geborgenheit sind, merkt mancher erst, wenn er seinen Partner
verloren hat, gleich ob durch Trennung oder Tod. Wie wichtig Kontakte und Mitmenschen sind,
spürt derjenige am meisten, dem zu Hause die Decke auf den Kopf fällt. Wer ungetröstet bleibt,
kauft oft laufend Dinge, die er gar nicht braucht, oder versucht sich im Glücksspiel.
Wenn der Mensch seine seelischen Bedürfnisse lange Zeit vernachlässigt oder sie aus
irgendwelchen Gründen entbehren muss, stumpft er innerlich ab und entwickelt eine tiefe
Unzufriedenheit mit seinem Leben. Seine Gefühlswelt verflacht und verarmt. Frust schaukelt
sich hoch. Eine innere Leere entsteht. Der Mensch muss sie nun künstlich mit Mitteln wie
Alkohol, Nikotin, Süßigkeiten, Haschisch, Heroin oder Kokain anfüllen oder sie mit Methoden
wie Kaufrausch, Arbeitswut, Dauerberieselung durch Musik und Filme wegschieben, um sich selbst
auszuhalten.
Ich glaube aber, dass der Mensch noch mehr braucht. Er ist angelegt auf eine so absolute Nähe,
auf eine so vorbehaltlose Zuwendung, auf einen so endgültigen Trost, auf eine so
unvergängliche Liebe und auf eine so vollkommene Geborgenheit, wie kein Mensch sie geben kann,
sondern nur Gott; denn Gott schuf den Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er
ihn. (Gen 1,27)
Der Prophet Jesaia scheint diesen Zustand zu kennen, wenn er schreibt: "Meine Seele sehnt sich
nach dir in der Nacht, auch mein Geist ist voll Sehnsucht nach dir. (Jes 26,9). Auch den
Dichtern der Psalmen ist diese Erfahrung vertraut: "Wie der Hirsch lechzt nach frischem Wasser,
so lechzt meine Seele, Gott, nach dir. Meine Seele dürstet nach Gott, nach dem lebendigen Gott.
" (Ps 42,2f)Oder: "Gott, du mein Gott, dich suche ich, meine Seele dürstet nach dir. Nach dir
schmachtet mein Leib wie dürres, lechzendes Land ohne Wasser." (Ps 63,2)
Die alttestamentlichen Texte bezeugen, dass Gott für das Innere des Menschen so
überlebensnotwendig ist wie Wasser für die Natur. Hat die heutige Gesellschaft Gott so
vergessen und verdrängt, dass sie pausenlos Ersatzbefriedigungen anbietet und man ahnungslos
und unbewusst darauf hereinfällt?
Egal zu welcher Tageszeit ich in der Innenstadt etwas zu erledigen habe, immer wieder fällt
mir ein Mann auf, der offensichtlich nichts anderes zu tun hat, als seine Zeit tot zu schlagen.
Mit einem uralten Auto kommt er früh morgens an und fährt abends in seinen Heimatort zurück.
So merken seine Nachbarn nicht, dass er in Wirklichkeit gar nicht zur Arbeit fährt, sondern
arbeitslos ist. Wie ihm wirklich zumute ist, sieht man ihm von außen nicht an. Er wirkt wie
ein Müßiggänger auf Urlaub. Doch tief in ihm drin vermute ich Scham, Verzweiflung und Angst,
nackte Existenzangst.
Wen ein solches Schicksal trifft, muss mit vielem fertig werden, wovon andere keine Ahnung
haben. Will ein solcher Mensch nicht zugrunde gehen, muss er sich auf das Wesentliche des
Menschseins besinnen. Bewährt haben sich folgende
10 Faustregeln zum Leben
Ausreichend Schlaf;
denn nur so erholt man sich.
Ausgewogene Ernährung;
denn nur so bleibt man widerstandsfähig.
Schützende Kleidung;
denn nur so trotzt man dem Klima.
Bergende Wohnung;
denn nur so beginnt Geborgenheit.
Ausgleichende Bewegung;
denn nur so bleiben die Organe im Einklang
miteinander.
Miteinander feiern;
denn nur so entgeht man der Einsamkeit.
Kultivierte Sexualität;
denn nur so erfährt man echte Liebe.
Ethische Grundhaltung;
denn nur so gelingt der Umgang mit den
Mitmenschen.
Geistige Tiefe;
denn nur so lernt man innerlich loslassen.
Harmonie im Herzen;
denn nur so findet man inneren Frieden,
Frieden in Gott als Kraftquelle des Lebens.
Immer wenn ein Mensch sich aus dem Lot fühlt, sind meist mehrere dieser Gesichtspunkte gestört.
Also muss er seine Energie darauf richten, Schritt für Schritt alle inneren Blockaden zu lösen,
die seine Existenzangst erzeugt. Manchmal können ihm Menschen guten Willens, wie er sie in
jeder Kirchengemeinde vorfindet, helfen. Doch seiner oft unbewussten Angst muss er mit einem
weit tieferen Vertrauen begegnen, als Menschen es ihm bieten können.
Wie wäre es damit? Christus verspricht im Evangelium nach Matthäus, Mt 11,28 - 30: "Kommt
alle zu mir, die ihr euch plagt und schwere Lasten zu tragen habt. Ich werde euch Ruhe
verschaffen. Nehmt mein Joch auf euch und lernt von mir; denn ich bin gütig und von Herzen
demütig; so werdet ihr Ruhe finden für eure Seele. Denn mein Joch drückt nicht und meine Last
ist leicht."
Alle Kinder dieser Welt, gleich welchem Kulturkreis sie angehören, spielen für ihr Leben
gern Verstecken. Es steckt wohl tief im Menschen drin diese Sehnsucht, irgendwo auf der Welt
ganz für sich allein zu sein, sich unbeobachtet zu fühlen - zumindest zeitweilig.
Im Laufe des Lebens lernt jeder hinzu, dass es manchmal besser ist, wenn andere nicht alles
über einen wissen. Geheimnisse vor andern zu haben wird zum Schutz der eigenen Person, nötig
um seelisch zu überleben - zumindest zeitweilig.
Maskenfeste, in unserem Kulturkreis meist die Faschingszeit, boten zu aller Zeit und bieten
noch heute eine ideale Gelegenheit, ganz ungeniert in eine andere Rolle zu schlüpfen, Masken
zu tragen. Die seelische Bilderwelt des Menschen wird von Träumen und Visionen bestimmt. Sie
helfen ihm, über die sichtbare Gestalt des Lebens hinauszugelangen. Mit Masken und Tänzen kann
er die Welt symbolisch beschreiben. Die äußere Wandlung, die eine Maske erlaubt, verbindet
sich mit einer inneren Wandlung - zumindest zeitweilig.
Rollen spielen und Masken tragen sind in Beruf und Gesellschaft unerlässlich - zumindest zeitweilig.
Aber irgendwann kommt der Punkt, da schreit jeder innerlich laut auf: "Aber nicht dauernd!
Nicht für immer!" Irgendwann ist das Maß voll! Einmal, einmal nur bei sich selbst sein, sich
auf das Wesentliche rückbesinnen! Dieser Wunsch staut sich auf und bricht sich eines Tages
Bahn, manchmal sehr qualvoll in einem seelischen Schmerz oder in einer Krankheit; denn nichts
tut so weh, als den eigenen Schwächen und erst recht einer eigenen Schuld zu begegnen.
Wurzel schlagen dort, wo man mit all seinen Grenzen, Schwächen und Eigenheiten sein darf, wie
man ist, wo man auftanken kann für sich ganz allein, für das eigene, ureigene Wesen tief in
einem drin.
Doch wie vorgehen?
Die katholische oder die orthodoxen Kirchen bieten dafür zum Beispiel das Sakrament der
Versöhnung an als Ort der inneren Heilung und des äußeren Neuanfangs. Voll Vertrauen auf einen
barmherzigen Gott versprechen sie jedem, der mit sich selbst neu anfangen will: " Gott, der
barmherzige Vater, hat durch den Tod und die Auferstehung seinen Sohnes die Welt mit sich
versöhnt und den Heiligen Geist gesandt zur Vergebung der Sünden. Durch den Dienst der Kirche
schenke er dir Verzeihung und Frieden. So spreche ich dich los von deinen Sünden im Namen des
Vaters durch den Sohn im Heiligen Geist."
Ach Du meine Güte! Die Urlaubszeit steht vor der Tür, und ich soll etwas über Erholung,
Besinnung und Freizeit schreiben! Und das mitten im Prüfungsstress!
Früh am Morgen wache ich auf und habe das Gefühl, dass mein Hirn schon auf vollen Touren die
ganze Nacht hindurch gearbeitet hat. Mich wundert fast, dass ich gestern Abend so glatt
einschlafen konnte.
Während des ganzen Arbeitstages spüre ich, wie neben der Alltagsarbeit zusätzliche Aufgaben
und Probleme in meinem Hinterkopf entworfen und verworfen werden, Gestalt annehmen und wieder
zerfließen, gerade so, als gäbe es tief in mir drin eine Art zweite Ebene, ein Nebengleis,
auf dem es zugeht wie auf einem Rangierbahnhof.
Wenn bloß das Telefon nicht wäre! Wer hat nur dieses Marterinstrument erfunden, das immer dann
klingelt, wenn man mitten in einer wichtigen Sache steckt? Kann man denn nicht mal in Ruhe
etwas am Stück fertig bekommen? Woher weiß dieser verflixte Apparat eigentlich, dass er jetzt
genau den Zeitpunkt erwischt, an dem er mich nerven kann? Die reine Boshaftigkeit ist das,
dieses Teufelsding! Ich könnte es an die Wand schmeißen! Hoffentlich merkt die Person am
anderen Ende der Leitung nichts davon! Die ist unschuldig. Sie kann ja nichts dafür, dass
mich mein Telefon direkt vor mir auf dem Schreibtisch anschrillt.
Am besten, ich gehe erst einmal joggen. In irgendeiner schlauen Zeitschrift habe ich
irgendwann gelesen, dass der Mensch mindestens einmal am Tag gründlich durchschwitzen solle,
aber mit Freude; denn der Angst- und Stressschweiß zähle nicht dazu.
Also freue ich mich. Ich freue mich darüber, dass mir im Laufschritt den Berg hoch die Puste
nicht ausgeht. So ganz am Ende meiner Kraft bin ich offensichtlich doch noch nicht. Weg mit
dem falschen Selbstmitleid! Schön sind sie, die weißen Schlehenblüten am Wegrand! Wieso sind
sie mir nicht schon längst aufgefallen? Wie blind ich manchmal bin! Sonnendurchflutet liegt
die Stadt da, die Bäume sprießen, Wiesen erstrahlen in sattem Grün. Meine Seele tankt auf,
während mich meine Beine wie von selbst vorwärts bringen.
Wieder zu Hause angekommen gerate ich in ein Streitgespräch mit meinem Jüngsten über das
schwerwiegendste philosophische Problem des Tages. Wer von den beiden Comic-Figuren ist
schneller? Roadrunner, dieser komische Vogel am Landstraßenrand, oder Speedy Gonzales, die
schnellste Maus von Mexico? Wir können uns nicht einigen.
Doch als ich frisch geduscht und heiter gestimmt mich wieder meinem Schreibtisch zuwende, muss
ich unwillkürlich zur Christus-Ikone an der rechten Wand meines Arbeitszimmers lächeln.
Manchmal stiehlt sich Gott halt durch die Hintertür ins Herz.
Samstag für Samstag strömen sie in die Fußballstadien. Zigtausend von treuen Anhängern
lockt jeder Bundesligaverein von Ort zu Ort. Kein Anfahrtsweg ist den Fans zu weit, kein
Wochenende zu schade. Sie sind unterwegs. Man hofft auf Ablenkung, Spannung und Entspannung
zugleich. Den weniger Reiselustigen reicht der Sessel vor dem Bildschirm. Woche für Woche
macht König Fußball die Massen mobil.
Mobilmachung für König Christus? Nein Danke! Oder doch?
Einmal im Jahr, an Fronleichnam nämlich, versammeln sich die Christusfans innerhalb der
Katholischen Kirche. Sie sind dann unterwegs für eine Sache, die tiefer geht als bloßes
Entspannen am Feiertag. Einmal im Jahr zeigen sie öffentlich, dass ihr wahrer Meister nicht
von dieser kurzlebigen Welt ist. Ihre Verehrung für ihn reicht über die Saison hinaus.
Für sie ist der eigentliche Herrscher dieser Welt ein geistiger Alleinherrscher. Er ist für
sie "der Christus", übersetzt "der Gesalbte", also der von Gott Auserwählte seit seiner
Auferweckung von den Toten. Er steht über allen Mächtigen der Erde, jenseits der
Wirtschaftsbosse und Regierenden, unabhängig von Stars und Idolen der Medien und des Sports.
Er hat Vorrang vor allem anderen. An ihm orientieren sie sich, richten sich nach ihm aus. Für
ihn gehen sie auf die Straße. Einmal im Jahr, das genügt. Dauerwerbung hat er nicht nötig.
Sie machen ihn sichtbar mit den Zeichen, die er selbst beim Letzten Abendmahl mit seinen
Jüngern gesetzt hat, an den Symbolen von Brot und Wein, wie er selbst formulierte: "Nehmt und
esst, das ist mein Leib. Nehmt und trinkt, das ist mein Blut."
Seitdem scharen sich seine Anhänger bei jeder Eucharistiefeier um ihn, verleiben sich ihn ein
in der Gestalt von Wein und Brot, Proviant für ihre Seele bei der großen Reise durch das
unbeständige Leben einer ungewissen Zukunft entgegen. Auch wenn sie immer wieder mal verzagen,
bleiben sie zuversichtlich und hoffen, daß er alle Tage bei ihnen ist bis ans Ende der Welt,
so wie er es versprochen hat. Dieser Trost gibt ihnen Kraft durchzuhalten.
Und einmal im Jahr zeigen sie das öffentlich in einer Prozession mit einem Gottesdienst im
Freien, an Fronleichnam, wörtlich "lebendiger Leib des Herrn". Auf allen Kontinenten dieser
Erde feiern sie dieses Fest, neuerdings auch wieder ganz ungeniert in Russland als
Demonstration dafür, dass Christus der eigentliche Nabel der Welt ist. Manch Älterer unter
uns erinnert sich vielleicht noch an so manche Fronleichnamsprozession im sogenannten Dritten
Reich. Sie war den damaligen Machthabern oft genug ein Dorn im Auge; denn allzu deutlich
wurden sie daran erinnert, wo ihre Macht Grenzen hatte.
In Jesus Christus zeigt sich den Christen der dreifaltige Gott:
Als Jesus am Jakobsbrunnen eine Samariterin um Wasser bittet, lehnt diese zunächst ab. Worauf
ihr Jesus entgegnet: "Wenn Du wüsstest, worin die Gabe Gottes besteht, und wer es ist, der zu
Dir sagt: Gib mir zu trinken!, dann hättest Du ihn gebeten, und er hätte Dir lebendiges Wasser
gegeben. Wer von gewöhnlichem Wasser trinkt, wird wieder Durst bekommen; wer aber von jenem
Wasser trinkt, das ich ihm geben werde, wird niemals mehr Durst haben; vielmehr wird das
Wasser, das ich ihm gebe, in ihm zur sprudelnden Quelle werden, deren Wasser ewiges Leben
schenkt."(Joh 4,7 ff)
Woher stammt das Wasser, von dem Jesus spricht? Jesus hat es selbst erfahren: Vom "Abba", vom
"Vater". Er ist die nie versiegende Quelle, jener Ursprung, der nährt und am Leben erhält, der
Kraft und Trost spendet.
Quellwasser versickert, wenn niemand die Quelle fasst und einen Brunnen darum bildet. Wer ist
dieser Brunnen für lebendiges Wasser? Es ist Jesus, der Christus, der "Sohn". Über ihn gelangt
der suchende Mensch zum "Vater", durch ihn hat er Zugang zur Quelle, zum "Vater". Der" Sohn"
ist sein Gefäß, sein Brunnen. Aus dessen Worten und Taten soll der Mensch schöpfen, dann ist
er dem "Vater" nah und erhält jenes lebendige Wasser, das unermüdlich aus der Quelle, aus dem
"Vater" sprudelt, nämlich den "Geist".
Wasser bewirkt Leben, der "Geist" bewirkt Kraft, durchtränkt den Lebensmut, des "Vaters"
Spuren in jedem Glaubenden. Geschenkt vom "Vater", überreicht durch den "Sohn" belebt der
"Geist" den Menschen. Nur trinken muss er noch selbst, sich seiner bedienen. Dann lebt er
"im Namen des Vaters, durch den Sohn im Heiligen Geist", wie es die orthodoxen Kirchen so
trefflich beten.
(Ingeborg Bachmann)
Noch nie hat ein Mensch faul im Regen gedöst, so sehr er auch manchmal das kostbare Nass
vom Himmel ersehnte. Aber in der Sonne, da aalt er sich behaglich, solange sie nicht gerade
unbarmherzig auf seine Haut knallt.
Wer sich erholen und entspannen will, sucht den Sonnenschein. Unser Körper braucht ihn
offensichtlich ebenso wie unser Gemüt. Eine Kette von Regentagen drücken auf die Stimmung,
ein Sommerhoch erfreut. Man sitzt zusammen, plaudert, lacht, isst und trinkt miteinander, die
Seele badet in Kontakten. Und wem es zeitlich in den Kram passt, der gönnt seinem Körper das
köstliche Nass unter der Dusche, im Freibad , am See oder am Meer, er genießt es, wie
erfrischendes Wasser seine Haut umschmeichelt, und spürt, wie er - vor allem im Urlaub - ein
anderer Mensch wird.
Diese äußeren Veränderungen bewirken allmählich innerliche. Jetzt im Urlaub hat der Mensch
Zeit, sich behutsam an all die inneren Verwundungen, an die Schädigungen durch Beruf und
Alltagshetze, an die Verletzungen durch zerbrochene Beziehungen oder Schicksalsschläge
heranzutasten und verdrängte Trauer nachzuholen. Offensichtlich brauchen wir Menschen nicht
nur die äußere Sonne, sondern auch einen ganz speziellen Sonnenschein im Herzen, ein inneres
Licht, das die dunklen Schatten, die auf uns lasten, vertreibt, Frieden bringt und die Seele
heilt.
Jeder Kranke, der lange bettlägerig sein muss, weiß um diesen inneren Kampf. Sehr treffend
schreibt dazu der berühmte Forscher und Theologe Teilhard de Chardin an seine kranke Schwester:
"Während ich Kontinente und Meere durchquerte und leidenschaftlich damit beschäftigt war, alle
Farben und Schönheiten der Erde zu sehen, lagst du da, bewegungslos hingestreckt, und
verwandeltest im Innersten deines Wesens die schlimmsten Finsternisse der Welt in Licht.
Vor Gott, unserem Schöpfer, sage mir, wer von uns beiden hatte den besseren Teil?"
Selbst von schwerer Krankheit betroffen tröstete der Dichter Rainer Maria Rilke eine
Besucherin an seinem Krankenbett: "Vergessen Sie nie, das Leben ist eine Herrlichkeit!"
In seiner guten Stube am runden Tisch erzählt mir das Ehepaar von seiner Arbeit. Sie betreiben
eine vom Vater übernommene Landwirtschaft, nebenberuflich versteht sich. "Nur wer einen sehr
großen Hof hat, kann heute noch davon leben." bekomme ich Auskunft. Dabei war heuer ein
überdurchschnittlich gutes Jahr. Trotz Schneemangel im Winter war der Boden im Frühjahr gut
aufgefroren, bot beste Bedingungen für eine gute und frühe Saat. Die hervorragende Heuernte
verspricht bestes Winterfutter für leistungsstarke Milchkühe. Und doch lassen sich die Sorgen
und Ängste des Jahres nicht so einfach aus der Erinnerung verdrängen. Wie kaum ein anderer
Beruf ist der Landwirt dem Wetter ausgeliefert. Zwar war es dieses Jahr nur eine Frostnacht
Ende Mai, aber sie stoppte das Wachstum beim Mais, und dem restlichen Getreide machte obendrein
der trockene Sommer zu schaffen
.
Sobald sich Gewitterwolken auftürmen, kommt Angst hoch. Droht Hagel? Wie viel Hektar der Ernte
wird er vernichten? War alles umsonst: der Vierzehnstundentag in Spitzenzeiten, der geopferte
Urlaub, die ersatzlos gestrichenen Feierabendstunden im trauten Familienkreis?
Falls der Blitz in den Viehstall schlägt, käme das einer Katastrophe gleich. Die frei laufenden
Rinder in den Viererboxen gerieten unweigerlich in Panik, aussichtslos, sie heil aus dem Stall
zu bringen.
Dieses Jahr kann das Ehepaar, Gott sei Dank, aufatmen. Sie wurden von Blitz- und Hagelschlag
verschont.
Was dem Wetter in diesem Jahr nicht gelang, schaffte die Politik. Der Überschuss im Viehbestand
Ostdeutschlands drückte den Fleischpreis um 20%, und um ein Viertel fiel der Milchpreis. Wer
die Milchmenge erhöht, wird bestraft. So will es EU-Vorschrift. "Aber für den Verbraucher wird
Fleisch und Milch dennoch nicht billiger und wir Bauern sind das Stiefkind der Nation!" meint
die Bäuerin bitter. "Ständig die Gefahr vor Augen, dass man umsonst arbeitet, das kann einen
ganz schön fertig machen!" "Warum sie nicht aufhören?" "Das fällt schwer. Da gibt es tief in
einem drin ein Gefühl, ähnlich der Pflicht und der Verantwortung, das können wir nicht einfach
wegwerfen, ohne dass etwas Wertvolles verloren geht."
Es ist spät in der Nacht, als ich mich nachdenklich auf den Heimweg mache, vorbei am dunklen
Bäckerladen, in dem ich wie selbstverständlich fast täglich mein Brot kaufe. Zu Hause in der
Küche breche ich ein kräftiges Stück Brot vom Laib, setze mich an den Esstisch und schiebe
Bissen für Bissen in den Mund, während im Haus alles schläft. Noch nie habe ich ein Stück
trockenes Brot mit soviel Aufmerksamkeit gegessen wie in dieser nächtlichen Stunde.
Wenn es einen Menschen gibt, mit dem ich nicht tauschen möchte, dann ist das Johannes,
genannt der Täufer.
Welchem Erwartungsdruck seiner Eltern musste er wohl schon als Kind standhalten? Hatte es
seinem Vater, dem Priester Zacharias, doch gewaltig die Sprache verschlagen, als ihn Gott
erfahren ließ, dass er und seine Frau Elisabet auf ihre alten Tage noch einen Sohn bekommen
würden mit großartiger Zukunft: "Viele Israeliten wird er zum Herrn, ihrem Gott bekehren. Er
wird mit dem Geist und der Kraft des Elija dem Herrn vorangehen, um das Herz der Väter wieder
den Kindern zuzuwenden und die Ungehorsamen zur Gerechtigkeit zu führen und so das Volk für
den Herrn bereit machen." Welch ein Glück, dass Johannes "Wein und andere berauschende Getränke"
nicht zu sich nahm, er wäre unter diesem hohen seelischen Druck höchstwahrscheinlich davon
abhängig geworden. So blieb ihm nur der Rückzug in die Einsamkeit der Wüste, vor der sengenden
Sonne des Tages, der Eiseskälte der Nacht und dem Fauchen des Sandsturmes geschützt durch ein
raues Gewand aus Kamelhaaren, vor dem Verhungern bewahrt durch Heuschrecken und wilden Honig,
bis ihn der Auftrag Gottes einholte, Vorläufer für den Messias zu sein. Ein Leben, das alles
andere als auf Rosen gebettet, verlief.
Niemand hatte ihm in der Wüste einen höflichen Umgangston beigebracht. Dass er überhaupt
welche zum Neuanfang mit Gott zu überzeugen vermochte und diese sich von ihm zum Zeichen ihres
Neubeginns sogar taufen ließen, wundert mich. Beschimpfte er sie doch als Schlangenbrut und
drohte mit den ewigen Feuer als Strafe Gottes. Einen solchen Spinner hätte ich schwätzen lassen,
ohne mich darum zu kümmern.
Einer von denen, die er damals schrecklich genervt hat, war Herodes Antipas, der damalige
Landesherr von Juda. Angestiftet von seiner zweiten Frau Herodias und empfindlich getroffen
von dem Vorwurf, dass er unrechtmäßig seine erste Frau verstoßen habe, um Herodias, die Frau
seines Bruders, zu heiraten, hat er Johannes kurzerhand ins Gefängnis gesteckt, schreckte
jedoch vor seiner Hinrichtung zurück, weil er sich insgeheim vor ihm fürchtete, ihn für einen
heiligen und gerechten Mann hielt. Darum deckte er ihn, besuchte ihn heimlich, auch wenn es
ihn "unruhig und ratlos machte, und doch hörte er ihm gerne zu"(Mk 6,20b).
Wie war es Johannes im Kerker wohl zumute, Gefangener und Seelsorger zugleich, oft einsam und
voller Zweifel über sich und seinen Auftrag? Hatte ihn sein Gespür, er habe den lang ersehnten
Messias vor sich, getrogen, als er Jesus am Jordan taufte? Jemand musste ihm die Nachricht in
die Haft geschmuggelt haben, dass Jesus sich nach Galiläa zurückgezogen hätte. Hatte Jesus
Angst, selbst verhaftet zu werden? War Jesus überhaupt der Messias? Hatte er, Johannes, sich
bloß in ein Wahnbild verstrickt? Es gelang ihm, über zwei seiner Anhänger Jesus zu fragen:
"Bist du der, der kommen soll oder müssen wir auf einen anderen warten?" Doch Jesu Antwort:
"Selig ist, wer an mir keinen Anstoß nimmt." war für den Zweifler im Gefängnis wohl alles
andere als eindeutig. Dass Jesus ihn selbst höher als alle anderen Propheten einstufte und ihn
als Erfüller der Heiligen Schrift sah, der dem Messias den Weg bahnen sollte, wie es der
Prophet Maleachi schon verkündet hatte, das bekam Johannes nicht zu hören. Er blieb im Kerker
ganz auf sich allein gestellt.
Schied er im Gottesfrieden oder in abgrundtiefer Verzweiflung, als sich die Gefängnistür zum
letzten Mal für ihn öffnete und der Henker ihm den Kopf abschlug? Wusste er, welch lächerlicher
Anlass ihn den Kopf kostete? Hatte sich der Henker an der Macht über den Verängstigten und
Verzweifelten berauscht und den Hofklatsch vor ihm ausgebreitet?
Herodes war bei seiner Geburtstagsfeier vermutlich vom Wein ein wenig angeheitert gewesen,
hatte zusammen mit seinen Gästen den Bauchtanz seiner leicht geschürzten Tochter genossen und
sich dann vor allen Leuten leichtsinnig zum Schwur hinreißen lassen, er werde ihr jegliche
Bitte gewähren, was Mutter Herodias sofort ausnutzte und ihrer Tochter den Wunsch einredete,
den Kopf des Johannes zu fordern. Aus Angst, sein Gesicht zu verlieren, sprach Herodes das
Todesurteil. Aber sein Gewissen muss ihn gehörig geplagt haben; denn als ihm die Taten Jesu zu
Ohren kamen, befürchtete er, Johannes sei auferstanden. So wurde der geradezu lächerlich
armselige Tod des Johannes zum Zeichen, dass Gott sich nicht mundtot machen lässt.
Mit sicherem Gespür hat dies der berühmte mittelalterliche Maler Grünewald bei seiner
Kreuzigungsszene auf dem Isenheimer Altarbild dargestellt. Unbekümmert, entgegen der Logik und
den Überlieferungen der Evangelisten, stellt er Johannes, den Täufer, neben den Gekreuzigten.
Mit dem überlangem Zeigefinger deutet der Prophet auf den geschundenen Christus am Kreuz.
Darüber die Inschrift ILLUM OPORTET CRESCERE ME AUTEM MINUI. Das bedeutet, "jener soll wachsen,
ich aber abnehmen". Mit der linken Hand hält er die Heilige Schrift aufgeschlagen und bekennt
Jesus als Erfüller des Alten Testamentes: "Seht das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt
hinwegnimmt. Er ist es, von dem ich gesagt habe: Nach mir kommt ein Mann, der mir voraus ist,
weil er vor mir war. Auch ich kannte ihn nicht; aber ich bin gekommen und taufe mit Wasser,
um Israel mit ihm bekannt zu machen."
Christen feiern an Weihnachten das Geburtsfest jenes Mannes, auf den Johannes, der Täufer,
zeigt. Davor liegt die Adventszeit, die Zeitspanne des Johannes, die "Ankunfts"zeit mit ihrem
Kerzenschein. Adventskerzen und Johannes haben eines gemeinsam: Wer Licht bringen will, muss
herunterbrennen.
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